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Aschenputtels letzter Tanz

Aschenputtels letzter Tanz

Titel: Aschenputtels letzter Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Weise
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ordentliche Festanstellung, einen ordentlichen Ehemann und eine hochbegabte Tochter, die sie auch nie in einer Fliegerjacke und Springerstiefeln herumlaufen lassen würde. Weil Elsa eben etwas Besonderes ist und das auch alle wissen sollen. Seit ich denken kann, heißt es in unserer Familie immer: Elsa wird es mal zu etwas bringen . Über mich sagt das keiner, aber das macht mir nichts, weil ich mir immer denke, dass wir ja nicht alle solche Überflieger sein können, sonst wäre das Besondere ja nur noch das Normale.
    »Gehen wir in mein Zimmer«, sagt Elsa mitten in meine Gedanken hinein und zieht mich mit in den anderen Flügel des Hauses. Hinter uns schwingen die beiden Türblätter sanft hin und her, während wir den langen Flur entlanggehen, an dessen Wänden sich im Licht der alten Lampen unsere Schatten bilden und uns hinterherkriechen. Durch den Verband sieht Elsas Schatten wie ein groteskes Ungeheuer mit Klumpfuß aus. Trotzdem ist sie erstaunlich schnell, dafür, dass sie die Verletzte ist und ich die Gesunde.
    Auf dem schwarz-weißen Fliesenboden quietschen die feuchten Sohlen meiner Stiefel unangenehm in der drückenden Stille des Hauses, und irritiert fragt Elsa über die Schulter: »Ist dir nicht zu warm in den Dingern?«
    »Nö.«
    Langsam steigen wir die breite, ausgetretene Treppe nach oben, wobei Elsa jede Stufe einzeln erklimmen muss, so wie es kleine Kinder tun, die noch nicht sicher laufen können. An der Wand neben der Treppe hängen alte Fotos von Familienmitgliedern, die schon lange vor meiner Geburt gestorben sind. Trotzdem kenne ich ihre Namen, weil Großmutter es wichtig findet, zu wissen, woher man kommt. Nur das Bild von Urgroßvater Heinz hängt nicht an der Wand, der hat nämlich noch als Scharfrichter gearbeitet.
    Auf dem Treppenabsatz angekommen, muss Elsa erst einmal verschnaufen, bevor sie weitergeht, weil das Treppensteigen sie offenbar doch mehr schafft als das Laufen.
    Ihr Zimmer liegt am Ende des Ganges, die weiß gestrichene Tür hat drei Klinken, die einem sofort ins Auge fallen. Eine ist aus Messing, eine aus lackiertem Holz und die dritte aus angelaufenem Silber. Aber nur eine davon funktioniert. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wer sich diesen Spaß erlaubt hat, vermutlich Großonkel Hans, denn Großmutter behauptet, Mutsch hätte ihren eigenartigen Sinn für Humor von ihm. Ichhoffe sehr, dass sie nicht noch mehr von ihm geerbt und an mich weitergegeben hat, denn er war dick und hatte eine Glatze.
    »Weißt du’s noch?«, fragt Elsa mich grinsend, als wir vor der Tür stehen, und deutet auf die Klinken, die schon ganz abgenutzt sind.
    Zielsicher greife ich nach der untersten, der aus Messing. Es gibt ein quietschendes Geräusch, als sich die Tür öffnet – wie im Film, kurz bevor jemand aus einer dunklen Ecke springt – und ich trete in Elsas Reich ein.
    Das ich kaum wiedererkenne.
    Das Zimmer hat genau wie Elsa eine Wandlung durchgemacht. An der apfelgrünen Tapete zeigen sich helle Flecken, wo früher Poster mit Balletttänzern hingen. An einigen Stellen sind sogar noch die Ecken mit dem Klebeband zu sehen. An der Übungsstange, die an einer Wand befestigt ist, hängen jetzt Klamotten, und auch Elsas Pokale sind vom Fensterbrett verschwunden. Stattdessen liegen dort CDs und Schulhefte. Nichts erinnert mehr daran, dass sie getanzt hat.
    Dafür liegen jetzt auf dem weinroten Teppich ein Dutzend Bilder mit wilden Farbklecksen; unzählige Pinsel stecken in einem schmutzigen Wasserglas, das gefährlich schief auf einem Stapel Bücher steht und jeden Moment abzustürzen droht.
    »Ich dachte, ich probier mal was Neues aus«, sagt Elsa und schließt die Tür hinter uns. »Jetzt, wo ich nicht mehr tanzen kann.«
    »Das wird sicher wieder …«
    »Nein, wird es nicht. Die Zehe ist ab, wie soll ich da drauf stehen? Das mit dem Ballett hat sich erledigt.«
    Was soll ich darauf antworten? Mutsch ist die, die gut mit Worten kann, ich bin eher die, die unüberlegt etwas tut. Deshalb ist sie ja auch Übersetzerin und ich nur mittelmäßig in Deutsch, weil ich ständig die Themen in meinen Aufsätzen verfehle.
    Ich wünschte, ich hätte jemanden, der mir Elsas Blicke übersetzt, damit ich weiß, was ich sagen muss, um ihr zu helfen.
    Aber Blickdolmetscher gibt es nicht, deshalb versuche ich es am Ende mit einem blöden: »Tut’s sehr weh?«
    »Nicht mehr als sonst, wenn ich mir was verstaucht habe. Die Ärzte sagen, ich spüre meine Zehe vielleicht ein Leben lang.

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