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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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aber Jo wehrt sich.
    Â»Lass mich hier«, sagt sie. »Mir geht’s gut! Ich warte auf Anne. Sie holt mich ab.«
    Aber ihre Mutter ließ nicht locker. Noch jemand war bei ihr. Nadeschda. Mit traurigen Augen, aus denen Angst sprach. Und dann noch zwei kräftig wirkende Männer. Sie hoben Jo von der stinkenden Matratze hoch und brachten sie hinaus ins grelle Licht und an die frische Luft. Jo strampelte, wehrte sich, aber die Männer ließen nicht locker. Die Welt drehte sich im Kreis, alles wackelte und vibrierte, als wäre ein Erdbeben im Gange. Sie unternahm noch einen Versuch, sich aus den Eisenhänden zu befreien, sie wollte zurück ins Haus, wo es ihr gut ging, wo der Tod immer noch auf sie wartete. Aber die Männer hielten sie unbarmherzig fest. Jo schrie und schimpfte und schlug um sich. Erfolglos.
    Sie brachten sie zu einem Auto. Bevor sie es erreichten, übergab sich Jo. Ihre Mutter und Nadeschda waren bei ihr und stützten sie. Schwall um Schwall stieß aus Jo heraus, und sie würgte noch, als schon lange kein Tropfen mehr kam. Sie war schwach, konnte sich nicht alleine auf den Beinen halten und kriegte gerade noch mit, wie man sie ins Auto setzte, dann wurde wieder alles schwarz.
    Als Jo erwachte, flutete helles Sonnenlicht durch ein großes, mit durchsichtig weißen Gardinen verhängtes Fenster. Die Sonnenstrahlen waren warm und fraßen ihre noch als Nebelschwaden umherfliegenden letzten Traumbilder auf. Das Licht tat ihren Augen weh. Sie schloss sie, gewöhnte sich allmählich an das warme Rot hinter ihren Lidern, öffnete sie wieder und blickte geradewegs ins Gesicht ihrer Mutter. Es war, als ob sie aus einem ewig währenden, todesähnlichen Schlaf erwachte, an den sie sich aber nicht erinnern konnte.
    Sie lag auf dem Sofa in der Wohnhalle ihres Elternhauses, wusste aber nicht, wie und wann sie hierhergekommen war. Sie war auf der Straße, suchte Ablenkung, Trost, Vergessen. Irgendetwas wollte sie vergessen, etwas Schreckliches, Unerträgliches. Sie war bei Kevin. Hatte ihr Kevin das angetan, was sie zu vergessen suchte? Sie forschte in den Nebeln ihrer Erinnerung. Nein, nicht Kevin. Nadeschda. Etwas war mit ihr.
    Â»Wo ist Nadeschda?«
    Â»Sie besorgt etwas.«
    Â»Warum hast du mich hierher gebracht?«
    Â»Weil du leben sollst und endlich aufhören, davonzulaufen.«
    Â»Ich bin nicht davongelaufen.«
    Â»Nein?«
    Â»Nein. Was meinst du?«
    Â»Kannst du dich nicht erinnern?«
    Jo schüttelte den Kopf. Nadeschda, Kevin, nichts.
    Ihre Mutter betrachtete sie eine Weile schweigend und hielt dabei ihre Hand. Dann sagte sie: »Du brauchst nicht in die Klinik, wir können es auch hier schaffen.«
    Jo erschrak. »Warum Klinik?«
    Â»Du warst im Steinhaus.«
    Jo schüttelte ungläubig den Kopf. Dumpfe Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Aber das waren nur Träume! Nicht real. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran, dass sie im Crackhaus gewesen war. Aber jetzt bemerkte sie den leichten Geschmack nach verbranntem Gummi in ihrem Mund und in ihrer Nase. Er war kaum wahrzunehmen, aber er war da. Sie konnte ihn nicht verleugnen.
    Jo erschlaffte und blickte an die Decke. In die Augen ihrer Mutter wagte sie nicht mehr zu schauen, sie schämte sich. Sie hatte es wieder getan, die teuflischen Steinchen geraucht. Nach so langer Zeit, da sie nicht einmal mehr an sie gedacht hatte. Sie bekam Angst, dass sie von nun an wieder ihr Leben bestimmen würden wie einst. Noch einen Entzug in der Klinik würde sie nicht überleben.
    Â»Du musst nicht in die Klinik, wenn du nicht willst«, sagte ihre Mutter, als könnte sie ihre Gedanken lesen. »Ich bin bei dir und stehe das gemeinsam mit dir durch. Aber du musst mir versprechen, dass du nie wieder solch eine Dummheit machst.«
    Jo hielt ihren Blick weiter auf die Zimmerdecke gerichtet. Sie dachte an Anne. Sie wurde so plötzlich aus ihrem Leben gerissen, dass es nicht einmal ein Augenblinzeln Zeit gab, sich darauf einzustellen, oder sich von ihr zu verabschieden. Anders als damals bei ihrem Pferd oder bei ihrer Großmutter, und anders als bei ihrem Vater. Sein Tod kam schnell und war grausam, doch lange nicht so schnell wie bei Anne. Aber genauso unbarmherzig. Der Krebs fraß ihren Vater von innen her auf. Innerhalb von wenigen Wochen wurde sein rosiger und wohlgenährter Körper von einer Macht aufgesogen, die stärker war als er und stärker als alle

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