Aschenwelt
alles. Ich ging auch nicht mehr zur Schule. Nie wieder ging ich in meine Klasse zurück, zu meinen Freundinnen. Man legte uns nahe, die Stadt zu verlassen, möglichst weit weg, am besten sollten wir uns einen Namen zulegen, ein neues Leben beginnen. Also zogen wir nach Süddeutschland, in eine Kleinstadt irgendwo in der Pampa. Wir hieÃen ab sofort Müller. Bis heute. An manchen Tagen erinnere ich mich an meinen richtigen Namen nicht mehr. Wir begannen ein neues Leben, was keines war. Meine Eltern waren zu Zombies mutiert.« Nadeschda machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr. »Ich ging zu diversen Psychologen. Und irgendwann habe ich meinen Lebenswillen wiedergefunden und manchmal, an guten Tagen, sogar meine Lebensfreude.«
Ihr erging es wie mir, dachte Jo. So ähnlich. Kann das sein? Nadeschda hatten einen geliebten Menschen verloren, wie sie. Am selben Tag, durch Gewalt. Verband sie das miteinander? War es Schicksal, dass gerade sie sich kennengelernt hatten?
Aber es war ihr Bruder!
»Die Monate zogen ins Land. Wir schrieben einen Brief an die Opferfamilien, versuchten zu beschreiben, wie leid uns tat, was mein Bruder ihnen angetan hat. Wir wussten, dass es nur Wörter sind, die nichts wieder gutmachen können. Aber uns ging es dadurch ein wenig besser. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Das stimmt nicht. Es gibt Wunden, die sind unheilbar. Man lernt, damit zu leben, aber sie sind immer da. Diese Wunde, die mein Bruder geschlagen hat, wird immer da sein. Und sie wuchs und breitete sich aus.«
Nadeschda nahm Jos Hand. Sie sagte nichts mehr, aber Jo meinte zu spüren, was sie ihr mitteilen wollte. Ja? Was denn?
Ihr Bruder! Mann!
Jo hörte Flüstern.
Weit hinten in ihrem Kopf.
»Ich war selbst dafür verantwortlich, was ich getan hab«, sagte Jo. »Klar war Annes Tod der Auslöser von allem. Aber ich hätte mich auch anders entscheiden können.«
Nadeschda lächelte traurig, Tränen standen auf ihren Augenlidern.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Jo nickte.
»Wirklich. So sehr.« Nadeschda atmete tief durch. »Und ich kann nicht mal erahnen, was du durchgemacht hast, durchmachen musstest. Bis heute. Vielleicht ist es Schicksal, dass wir uns getroffen haben.«
Schicksal? Dass ich nicht lache!
Ja, warum denn nicht? Vielleicht könnt ihr nur gemeinsam das alles durchstehen und verarbeiten.
Verarbeiten? Hast du nicht dafür das alles aufgeschrieben? Um alles noch einemal zu verarbeiten? Oder überhaupt? Und was ist jetzt!
»Warum bist du wieder zurückgekommen?«, wollte Jo wissen.
»Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe«, erwiderte Nadeschda. »Ich musste zurück. Ich gehöre hier her und nirgends sonst.«
»Und was ist mit deinen Freundinnen von damals?«
»Ich habe mich bisher noch nicht getraut, mich mit ihnen zu treffen, nicht einmal mit meiner besten. AuÃer meiner Tante weià niemand, dass ich wieder zurück bin. Und auÃer ihr und jetzt dir kennt niemand meine Geschichte.«
Jo musterte Nadeschda eine Zeitlang. Sie schien sich immer noch schuldig dafür zu fühlen, was ihr Bruder getan hatte.
Zurecht!
Sonst hätte sie doch längst ihre alten Freundinnen aufgesucht. Und wer litt jetzt gerade eigentlich mehr? Hatte nicht sie ihr gerade eben das Schrecklichste erzählt, was ihr in ihrem Leben widerfahren war?
Genau!
»Ich muss spazieren gehen.« Jo stand auf. »Frische Luft schnappen. â Alleine.«
Nadeschda nickte stumm.
Jo zog sich an, sagte »Bis später« und verlieà die Wohnung. Sie ging die Treppenstufen hinab, öffnete die Haustür, schloss sie hinter sich und trat auf die StraÃe hinaus. Sie atmete tief durch. Und noch einmal. Ihr eingedicktes Gehirn verflüssigte sich. Schuld. Wer war schuld? An was? Wer fühlte sich schuldig? Warum?
Das Flüstern in ihrem Kopf wurde lauter. Sie stieà einen Schrei aus und haute sich mit flachen Händen auf den Kopf. Immer und immer wieder.
Jo musste weg, irgendwohin. Ihre Schritte wurden schneller, bis sie schlieÃlich lief. Sie rannte durch die StraÃen und hatte keine Augen für die Passanten, die ihr entgegenkamen. Sie stolperte in sie hinein, strauchelte einige Male und hörte die Beschimpfungen nicht, die man ihr hinterherschrie. Am Ende fand sie sich auf jenem Grünstreifen wieder, auf dem sie damals so viel Zeit verbracht hatte. Hier hatte sich nichts verändert. Die
Weitere Kostenlose Bücher