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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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Hände seitlich an ihre Augen, damit sie die Fratzen nicht sehen musste. Sie steuerte geradewegs jenes Haus an, in dem ihre Mutter in den letzten Jahren gearbeitet hatte, um jenen zu helfen, die darin wohnten, oder besser dahinvegetierten und starben. Sterben. Dort konnte sie sterben. In dem Crackhaus wäre sie sicher. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Die Teufel sammelten sich um sie und hefteten ihre gelben Blicke auf sie. Sie lachten und sie flüsterten »geh hinein, geh hinein.«
    Â»Ich werde hineingehen!«, schrie sie ihnen entgegen. »Aber ohne euch! Ihr werdet mich nicht kriegen! Ihr nicht!«
    Sie klopfte panisch an die Tür, so lange, bis ihr endlich jemand öffnete. Sie zwängte sich an einem heruntergekommenen Kerl vorbei, der sie gar nicht richtig wahrzunehmen schien. Der Kerl blickte sich mit hängender Unterlippe auf der Straße um, als suche er jenen, der geklopft hatte. Nachdem er niemanden fand, schloss er die Tür wieder, Jo war schon lange drin.
    Sie trat in eine dunkle und stickige Höhle. Fetzen alter Poster hingen an die Wänden, leere Flaschen und Dosen lagen auf dem Boden, Urin und Fäkalien in den Ecken, die atemberaubend stanken. Kein Licht brannte hier drin, die Fenster waren vernagelt oder mit dicken Stoffen verhängt. Jo ging weiter in die Eingeweide des Hauses. Aus manchen Zimmern drang qualvolles Stöhnen oder Brabbeln, oder zusammenhangloses Geschwafel ohne Sinn und Verstand. Der Wahnsinn, der Schmutz, die Verzweiflung, all das war hier zu Hause. Der Vorhof des Todes.
    In einem Zimmer lagen verdreckte Matratzen herum, darauf saßen eine handvoll abgerissene Gestalten. In ihrer Mitte brannte in einem alten Einmachglas eine Kerze. Einer klampfte auf einer verstimmten Gitarre herum, die schrägen Sägeklänge schwirrten im Raum umher, niemanden schien das schreckliche Konzert zu stören. Ein anderer reichte gerade seinem Sitznachbarn eine silberne Pfeife. Willenlos steuerte Jo auf diese Gruppe zu und ließ sich auf eine der Matratzen fallen. Hier sollte sie also sterben. Warum nicht, vor Jahren wusste sie ohnehin, dass sie einmal an genau solch einem Ort sterben würde. Heute war es soweit. Endlich.
    Niemand der Leute beachtete sie. Alle waren viel zu sehr mit sich selbst und vor allem mit der Pfeife beschäftigt. Und als wäre Jo schon immer hier, als gehörte sie zum Kreis, bekam sie die Pfeife gereicht und ein klebriges Feuerzeug dazu. Sie nahm beides entgegen und hielt es in der Hand. Auf dem Sieb im Pfeifenkopf lagen einzelne gelbe Bröckchen. Sie rochen nach verbranntem Gummi, sie rochen nach Trost, nach Vergessen, nach Erlösung. Jo setzte die Pfeife an ihren Mund und zog daran, während sie die Steinchen mit ihrem Feuerzeug anzündete. Der Rauch kroch heiß und scharf ihren Hals hinunter in ihre Lunge, bohrte sich in jedes Lungenbläschen, drang in die Blutkörperchen ein und raste hinauf in ihr Hirn. Nur ein Augenblinzeln später war Jo ein anderer Mensch. Alles war vergessen. Sie fühlte sich gut. Sie fühlte sich stark. Sie war glücklich und voller Vorfreude. Bald würde sie Anne wiedersehen. Sie zog noch einmal an der Pfeife. Die Gefühle wallten in ihr auf, sie wuchs, wurde zur Riesin und schlug die Hand weg, die ihr die Pfeife entreißen wollte. Sie nahm noch einen tiefen Zug aus der Pfeife. Der Rauch war Labsal für ihre Seele. Er füllte sie ganz aus, heilte jede Zelle noch im verstecktesten Eckchen ihres Körpers. Sie schlug zwei Hände weg, setzte die Pfeife und das Feuerzeug noch einmal an und sank dann hintenüber auf die Matratze. Sie schwebt mitten im Raum, blinzelt zur Decke hoch. Dort schwebt noch jemand, blickt auf sie herab. Das Gesicht ist eine kleine Sonne, im goldenen Strahlenkranz.
    Â»Steh auf«, sagt die Sonne.
    Â»Nein«, sagt Jo. »Anne, ich komm jetzt zu dir.«
    Â»Nein!«, sagt Anne. »Du musst aufstehen! Jetzt sofort!«
    Â»Nein. Ich komm zu dir. Ich fliege zu dir. Siehst du? Mir geht’s gut! So gut! Anne. Ich komme, ich komme zu dir.«
    Das Licht schwindet, Annes Sonne verblasst. »Bleib bei mir!«, ruft Jo. Aber das Licht erlischt, bis alles schwarz ist. »Ich komm zu dir.«

Fünf
    Bilderblitze. Gesichter, die über ihr schweben, große Augen, jemand redet, aufgeregt, laut, unverständlich. Das Gesicht ihrer Mutter. Sie ist hier und beugt sich zu ihr hinab. Sie fasst Jo am Arm und will sie hochheben,

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