Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
geheftet, schob sich Alex nach vorn. Der Stundenzeiger der Seiko stand auf neun, der Minutenzeiger auf drei Minuten nach, und der Sekundenzeiger zwischen zwanzig und einer Raute – und er bewegte sich nicht. Alex starrte das Ziffernblatt so durchdringend an, dass sie, wäre sie ein Zyklop gewesen, ein Loch hineingebrannt hätte. Ihr traten vor Anstrengung Tränen in die Augen. Aber der Sekundenzeiger rührte sich nicht.
Ihre Uhr und die von Jack, die iPods, das Radio, ihre LED-Taschenlampen: Nichts gab mehr einen Mucks von sich, und Jack … Ihr Blick glitt hoch zu seinem Gesicht. Vorhin hatte er noch etwas ganz Wesentliches gesagt: Ich bin ein zäher alter Bursche, abgesehen von meiner Pumpe .
Das war es. Jack hatte einen Herzschrittmacher. Nur so ließ sich erklären, warum Jack tot war und sie beide nicht. Jack hatte einen Herzschrittmacher, und Alex wusste, dass winzige Computerchips in diesen Geräten ständig den Herzschlag mit den jeweiligen Anforderungen des Körpers synchronisierten. Eine Art Kurzschluss darin hatte Jack umgebracht. Aber wie war es dazu gekommen? Was war Jack in den Brustkorb gefahren und hatte seinen Herzschrittmacher durchbrennen lassen, was hatte alle ihre elektronischen Geräte kaputt gemacht – und sie alle durchzuckt? Denn sie hatten es ja alle gespürt: Ellie, die Nasenbluten und Kopfschmerzen bekommen hatte. Der Hund, der vor Schmerz aufjaulte. Die Vögel und die Hirsche, die durchgedreht waren.
Und sie konnte wieder riechen – das Blut, den Harzgeruch der Nadelbäume, ihren Schweiß. Auch den Hund, und nicht nur sein Fell, sondern auch etwas Namenloses, das tief aus seinem Inneren drang.
Immerhin war Ellie wieder halbwegs normal, was ein Zustand irgendwo zwischen weinerlich und zickig zu sein schien. Und der Hund … nun, wer konnte das sagen? Zumindest griff er sie nicht an. Alex schaute kurz hoch zum Himmel und sah einen Falken, der sich vom Aufwind tragen ließ, und noch weiter oben zog ein Trio von Truthahngeiern langsam seine Kreise. Auch die Vögel schienen wieder normal zu sein.
Wenn ihr also der Geruchssinn erhalten blieb, hatte sich nur ihr Gehirn irgendwie verändert. Nur sie war anders geworden.
Aber wie? Und war das jetzt zu Ende?
Oder war es erst der Anfang?
9
D ie gute Nachricht war, dass Ellie lange genug kooperierte, um einen blauen Regenponcho herauszukramen, mit dem Alex den alten Mann zudeckte. Die schlechte Nachricht lautete, dass Ellie danach entschied, hilfsbereit genug gewesen zu sein, und dass Mina Alex nicht in die Nähe von Jacks Sachen ließ. Jedes Mal, wenn sie näher kam, fletschte der Hund die Zähne, und schließlich gab Alex auf. Sie würden also Jacks Wasser- und Essensvorräte zurücklassen müssen, was auch kein Drama war. Ellie konnte das meiste von ihrem Essen haben. Wenn sie das Mädchen dazu brachte, nicht zu trödeln, würden sie nicht länger als zwei Tage unterwegs sein. Drei, wenn es ganz schlecht lief. Sie selbst würde es schon so lange aushalten.
Als sie das Zelt abbrach, liebäugelte sie wieder mit dem Gedanken, zu ihrem Auto zurückzugehen. Aber würde der Wagen nach dem Elektronik-Crash überhaupt anspringen? Sie hatte von Autos so viel Ahnung wie von Chinesisch – also gar keine –, aber dass in die meisten Wagen eine komplexe Elektronik und ein, zwei Computerchips eingebaut waren, wusste sie. Vielleicht ging also gar nichts.
Sie schnallte sich die große Gürteltasche um, die schwerer war als sonst, weil sie außer ihrem Notfallpack noch eine schwarze Reißverschlussmappe hineingestopft hatte, die seit nunmehr fast drei Jahren ungeöffnet geblieben war – seit der Woche nach dem Tod ihrer Eltern. Die gut fünf Kilo schwere Mappe gehörte ihr irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Tante Hannah hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, was sich darin befand, und Alex erlaubt, hineinzuschauen, wann immer sie wollte. Vielleicht tut es dir gut , hatte ihre Tante gesagt, auch wenn sie nie erklärte, wie sie das meinte, und Alex es schon gar nicht verstand.
In diesem Behältnis steckten Erinnerungen. Zuerst war es zu schmerzlich gewesen, auch nur an Erinnerungen zu denken, geschweige denn sie zuzulassen. Im ersten Jahr hatte sie überhaupt keine Kontrolle über ihre Erinnerungen gehabt. Alles konnte sie auslösen: ein Songfetzen, die plötzlich aufheulende Sirene einer Polizeistreife, eine Fremde mit einer Frisur, die so sehr der ihrer Mutter glich, dass es ihr den Atem verschlug. Bei jeder dieser Erinnerungen durchzuckte
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