Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
spürte, wie die Tränen in sein Haar liefen. »Sie hätte es nicht tun dürfen. Ich bin kein Pferd mit einem gebrochenen Bein.«
»Gut, aber hättest du denn das Gift freiwillig genommen? Hättest du einem Mädchen, das du noch nie gesehen hast, vertraut, wenn sie dir sagt, dass du sterben wirst und dass dieses Mittel nur dein Leiden lindert?«
»Tja, aber sie hat sich doch getäuscht.«
»Möglicherweise … hat sie das Ausmaß deiner Verletzungen falsch beurteilt. Hannah ist sehr begabt, sie wird eines Tages eine gute Heilerin sein. Aber eine Ärztin ist sie nicht.«
»Und Sie?«
»Ich bin auch kein Arzt. Aber ich war lange Heilpraktiker, und ich kenne diese Baumfalle.«
»Wie haben sie …« Chris merkte, dass er hyperventilierte, konnte aber nichts dagegen tun. »Sie haben die Falle nicht von mir wegheben können. Die Schmerzen waren zu stark. Ich habe gehört, wie sie gestritten haben. Hannah befürchtete, ich würde sonst noch mehr Blut verlieren.«
»Stimmt.« Der Tonfall des alten Mannes war nüchtern und sachlich. »Als du bewusstlos wurdest, haben sie dich umgedreht und von dem Ding befreit. Ich glaube, sie mussten dazu auch ein paar Nägel abschneiden.«
Sie haben mich losgeschnitten. Bei der Vorstellung, wie sie die Tür umdrehten, an der sein lebloser Körper hing, aufgespießt wie ein Frosch auf der Sezierplatte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Wahrscheinlich hatten sie seine Leiche mit einem Tuch umwickelt und auf ein Pferd gehievt. Oder hat das Pferd mich hinter sich hergeschleift, weil ich ihm unheimlich war? Wahrscheinlich konnte er sich glücklich schätzen, dass sie ihn nicht unter einem Steinhaufen begraben hatten.
»Nathan wurde von einer Keule getroffen«, sagte Chris. »Von so einer Art Rammbock. Ich hab gehört, wie er sich den Hals gebrochen hat. Ist er auch von den Toten wiederauferstanden?«
»Nein. Er liegt noch im Totenhaus.«
Noch. Er spürte den Schrei, der in seiner Kehle aufstieg. Dort war ich also. Sie dachten, ich wäre tot. Sie haben mich zu Nathan gelegt. Aber wie …
»Wir beerdigen ihn im Frühjahr, wenn du möchtest. Wir verbrennen keine sterblichen Überreste, aber sein Pferd haben wir für unsere Hunde geschlachtet. Außerdem haben wir Nathans Sachen aufbewahrt – die Kleider, ein Gewehr, ein Funkgerät. Ich denke, sie gehören jetzt dir.« Nach einer Pause fuhr der alte Mann fort: »Ich weiß, du bist anderer Ansicht, Christopher, aber ich hatte eine Menge Zeit, um dich zu untersuchen. Nach deinen Verletzungen und sichtbaren Wunden zu urteilen – das heißt, soweit sie überhaupt noch vorhanden sind – hat Hannah richtig gehandelt.«
»Soweit sie überhaupt noch vorhanden sind?« Jedes Mal, wenn dieser alte Mann den Mund aufmachte, konnte Chris ihm nur mit Mühe folgen. »Was soll das heißen, soweit sie noch vorhanden sind?«
Statt einer Antwort zog der alte Mann das Laken auf Chris’ Brust bis zur Taille herunter. »Du hast ein halbes Dutzend Wunden, drei davon sind ziemlich ernst. Diese hier«, er legte die Handfläche auf Chris’ rechte Seite unterhalb der Rippen, »war die schlimmste: Ein Nagel hat dich komplett durchbohrt, was zum Lungenkollaps führte. Hast du Schwierigkeiten beim Atmen? Hannah sagt, du hattest eine Luftröhrenverschiebung.« Er fasste sich an den Adamsapfel. »Deine Luftröhre hatte sich zur Seite verschoben. Das passiert, wenn sich Luft im Brustkorb sammelt statt in der Lunge. Und erinnerst du dich an die Schmerzen im Bauch? Da war vermutlich Blut in der Bauchhöhle. Aber schau mal jetzt.«
Chris reckte den Hals und spähte auf seinen Bauch. Eine rosafarbene, frisch verheilte Narbe, ungefähr so groß wie eine Halbdollar-Münze, prangte direkt unter seinen Rippen. Mein Gott. Er schnappte nach Luft. Als er das erste Mal zu sich kam … er erinnerte sich an die Hand des alten Mannes auf seinem Bauch. Wie kann das sein?
»Die zugehörige Austrittswunde befindet sich rechts von deiner Wirbelsäule. Nach ihrer Lage zu urteilen, hattest du wohl auch einen Nierenriss. Der ist aber ebenfalls so gut wie verheilt. Moment.« Chris spürte ein Zerren am linken Handgelenk, als sich der alte Mann an dem Knoten zu schaffen machte. »Wenn du versprichst, mir nicht wieder an die Gurgel zu gehen, zeige ich dir noch was … So. Schau dir deine Hand an, Christopher.«
Zuerst fiel ihm nichts auf, aber dann erkannte er den Halbmond einer fast verheilten Schnittwunde, die von der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger bis hinunter zum
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