Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
hatte er nichts mehr in der Hand, nicht einmal mehr den alten Mann.
»Du wolltest mich umbringen, du … o Gott …« Er verdrehte die Augen; da war kein Licht mehr, nichts mehr zu sehen, und er stürzte in einem rasenden schwarzen Taumel.
»Schnell, fangt ihn auf!«, rief jemand. Vielleicht Ellie. »Lasst ihn nicht hinfallen …«
»Chris?« Eine Stimme aus der Finsternis. »Chris, antworte. Ist alles in Ordnung?«
»Ich … ich weiß nicht.« Seine Zunge war angeschwollen, sein Mund wie betäubt. Und auf seinem Brustkorb lastete etwas Schweres, das ihn nach unten drückte, ins Dunkle hinunter.
Ich bin wieder im Schnee. Unter der Falle.
»N-nein.« Als er den Kopf der Stimme zuwenden wollte, versteifte sich sein Nacken. »T-tötet mich nicht noch mal. B-bitte. Ich will nicht s-sterben.«
»Schsch. Hab keine Angst. Ich bin jetzt da, Chris. Ich lass dich nicht allein.« Eine starke, schützende Hand schmiegte sich an seine Wange. »Mach die Augen auf. Es ist Zeit zurückzukommen. Zeit zu sehen.«
»Ich k-kann nicht.« Er zitterte. »I-ich w-will nichts s-sehen.«
»Du musst. Schluss mit dem Versteckspiel im Schatten.« Die Stimme klang ruhig, aber unerbittlich. »Du bist nicht mehr acht. Komm jetzt. Komm zurück.«
»N-n-nnn…« Aber da schlug er die Augen auf, die Dunkelheit blätterte ab wie ein Film, der auf seinen Augen gelegen hatte. Zunächst sah er nur strahlende Helligkeit, als leuchtete ein gleißendes Licht durch dichten Nebel. Dann kräuselte sich der Nebel und wirbelte herum. Nach und nach erschien Peters Gesicht, setzte sich vom Hals an aufwärts zusammen: Kinn und Mund, Nase, Stirn.
Aber ohne Augen. Stattdessen nur glatte Haut über Knochen.
»Wo sind d-deine Augen?« Grauen packte ihn. »P-Peter, w-wo …«
»Oh, wie dumm von mir.« Und dann blätterte die Haut über Peters Augenhöhlen ab. »Bitte schön. Besser so?«
In Chris’ Brust schwoll ein Schrei an, der nach oben drängte. Denn Peters Augen waren Höhlen, nicht dunkle Spiegel wie bei Jess, sondern rot und tief, und sie füllten sich rasch. Blutrote Rinnsale liefen über seine Wangen und Lippen. Als Peter lächelte, entblößte er unnatürlich viele Zähne, die feucht und orangefarben glänzten.
»Kuckuck!«, sagte Peter. Dicke scharlachfarbene Tränen zitterten auf seiner Oberlippe und tropften Chris direkt ins Gesicht, zerplatzten auf seinen offenen, starrenden Augen. Es folgte ein schlangenartiges Zischen, Säure fraß sich hinein, und dann der Schmerz, denn Chris wurde blind und schrie …
»Huh!« Chris hörte den Schrei, der aus seinem Mund drang.
»Christopher?« Das war weder Peter noch Lena noch sein Vater, sondern ein alter Mann. Eine trockene, kühle Hand befühlte seine Stirn. »Christopher, bist du wieder bei uns?«
Ist das schon wieder ein Traum? Eine Weile regte er sich nicht. Ein neuer Albtraum? Er lag unter einer dicken Daunendecke und war immer noch fast nackt, allerdings hatte ihm jemand eine Unterhose angezogen. An seinem Hals spürte er etwas Ungewohntes. Ein Seil?
»Christopher?«
»J-ja«, krächzte er. Mühsam zog er die Augenlider hoch und zuckte zusammen, als ihn helle, gelblich weiße Lichtpfeile trafen, die durch die Fenster direkt gegenüber von seinem Bett einfielen. Er wollte die Augen mit der Hand abschirmen, konnte die Arme aber nicht bewegen. Um seine Handgelenke waren Tücher geschlungen, und seine Fußknöchel hatte man an die Bettpfosten gebunden.
»Da bist du ja. Willkommen zurück.« Der Alte griff nach einem Steinkrug auf dem Nachttisch und goss Wasser in ein Glas. »Hast du Durst?«
Gerade als er fragen wollte, warum man ihn gefesselt hatte, fiel ihm ein, dass er das genauso machen würde, wenn sich ein Junge an seiner Pistole vergriff. »Sind da Drogen drin?«
»Nein. Hier.« Der Mann schob einen Arm unter Chris’ Schulter und stützte ihn, damit er trinken konnte. Das Wasser war sauber, geruchlos und wie erfrischender Balsam. Chris spürte die Kühle, die von seiner geschundenen Kehle in den Brustkorb glitt und schließlich in einer Kälteexplosion seinen leeren Magen erreichte. Als er das Glas geleert hatte, bettete ihn der Alte wieder ins Kissen und lehnte sich dann auf seinem Stuhl zurück. »Das müsste jetzt drinbleiben. Wir haben dich gestern mit ein bisschen Brühe gefüttert, deshalb …«
»Gestern?« Als er sich mit der Zunge über die spröden Lippen fuhr, schmeckte er altes Blut, wo die Haut rissig geworden war. »Wie lang bin ich schon hier?«
»In diesem
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