Assassino
Seamus.«
»Wegen Ilyas?«
Kati nickte.
»Du musst ihn gehen lassen«, sagte der Ire ruhig. »Weil es seine Bestimmung ist.«
»Seit wann glaubst du an so etwas wie Schicksal?« Kati schüttelte entgeistert den Kopf.
»Schicksal«, erwiderte Seamus nachdenklich. »Fürwahr, ein gewichtiges Wort. Besonders auf diesem Boden hat es schon immer eine bedeutsame Rolle gespielt. Die alten Griechen glaubten, so wie die meisten Menschen damals, das Schicksal sei ein für alle Mal vorherbestimmt. Sie hatten Orakel, Wahrsager, Götterboten, die ihnen Kunde bringen sollten von dem, was sie erwartete.«
»Bitte jetzt keine Geschichtsstunde!«
»Das ist ein Teil der Antwort«, beharrte Seamus. Er strich sich eine imaginäre Fluse vom Ärmel seines Hemdes. Wie immer war er wie aus dem Ei gepellt. Hitze, Staub und Lärm schienen ihm nicht das Geringste anzuhaben. »Schicksal ist nichts, was man mit einem Satz beschreiben könnte. Es geht nicht einfach darum, ob alles schon immer irgendwo geschrieben steht und wir lediglich willenlose Marionetten sind, oder ob wir jederzeit frei bestimmen, was wir tun. Die Wahrheit ist oft nicht schwarz oder weiß, so wie wir es uns wünschen würden, sondern ziemlich grau, mit jeder Menge Zwischentöne und Unwägbarkeiten.«
»Und was willst du mir jetzt damit sagen? Wie hilft mir das, Ilyas zurückzubringen?«
»Manchmal muss man die Dinge einfach akzeptieren.«
»Das ist doch auch nur so ein leicht dahingesagter Spruch.«
»Weißt du, was ich glaube? Du bist eine sehr intelligente junge Frau. In den letzten Jahren ist dir alles, was du angepackthast, gelungen. Und jetzt erlebst du gleich zwei Misserfolge auf einmal. Die Fibelscheibe wird dir vor der Nase weggeschnappt und Ilyas entzieht sich deiner Fürsorge und lässt sich von dir nicht von seinem Weg abbringen. Und das stürzt dich in tiefe Verzweiflung. Diese Erfahrung haben wir alle einmal gemacht, und sie ist nichts Schlechtes. Sie führt uns vor Augen, dass sich die Welt nicht nach unseren Wünschen und Vorstellungen richtet.«
»Aber ich hätte ihm helfen können!«, rief sie. »Mit der Fibelscheibe hätte er sich gegen Tamars Fluch wehren können!«
Der Ire zog fragend die Augenbrauen hoch. In kurzen Worten berichtete Kati, was ihr Vater ihr erzählt hatte.
»Und du glaubst daran?«, fragte er. »Die Kati, die ich kennengelernt habe, war eine rationale, wissenschaftlich denkende Person, die von allem Übersinnlichen nichts hielt. Und jetzt … «
»Jetzt hat sich etwas geändert.
Ich
habe mich geändert. Durch Ilyas. Ja, ich glaube an das, was er erzählt. Dass er vor tausend Jahren bereits gelebt hat. Dass er irgendwie durch die Zeit zu uns gekommen ist. Und ich glaube an den Fluch von Tamar, weil es, zumindest nach unserem Erkenntnisstand, keine andere wissenschaftliche Erklärung dafür gibt. Und wenn ich Ilyas von Anfang an geglaubt hätte, wenn ich einfach meine Augen geöffnet hätte, anstatt alles durch diese
rationale
Brille zu sehen, dann hätte ich ihm vielleicht auch helfen können und er wäre jetzt nicht allein zu Tamar unterwegs.«
Erneut überwältigte sie der Schmerz.
Seamus blickte sie eine lange Zeit schweigend an, währendKati die Tränen übers Gesicht rannen. Die Angelschnüre vor dem Fenster kamen ihr wie die Gitter eines Gefängnisses vor, in dem sie für ewig gefangen war.
»Komm mit«, sagte der Ire unvermittelt und stand auf. Er warf eine Banknote auf den Tisch und fasste Kati, die nicht begriff, was er wollte, am Arm. »Komm!«
Er zog sie zum Ausgang und holte dabei sein Mobiltelefon heraus. Kati, die immer noch nichts verstand, bekam mit, wie er mit Mustafa sprach. Sie stolperte hinter ihm her über die Brücke, wobei er sie wiederholt zur Eile antrieb.
»Du hast doch die Nummer von Paola, oder?«, fragte er. »Gibst du sie mir bitte?«
Kati fischte die Karte aus ihrer Tasche, die Paola ihr bei ihrer ersten Begegnung ausgehändigt hatte, und reichte sie dem Iren. Der hatte schon wieder eine neue Nummer gewählt und sprach mit jemandem auf Türkisch. Kati bekam nur mit, dass er seinem Gesprächspartner Paolas Telefonnummer diktierte, bevor er das Gespräch beendete.
Sie erreichten den Busbahnhof am Ende der Brücke. Mustafa wartete bereits auf sie. Seamus schob Kati in die zweite Reihe und nahm selbst auf dem Beifahrersitz Platz. Dann nannte er Mustafa eine Adresse.
Kati war immer noch verwirrt. »Was hast du vor?«, fragte sie Seamus. »Wohin fahren wir?«
»Das wirst du gleich
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