Assassino
Gefühls der Vertrautheit staunte er immer wieder aufs Neue über das, was er sah. Hier gab es Dutzende von engen Straßen, in denen sich ein Geschäft an das andere reihte. Und überall darin drängten sich die Menschen. In manchen Sträßchen boten die Händler alle dieselben Waren feil, zum Beispiel geräucherte Wurst in allen Formen und Farben oder gebratene oder gefüllte Muscheln. Anderswo lag ein Gewürzladen neben dem anderen und er wurde von einer wahren Flut von exotischen Düften überrollt. Einige Gassen bestanden nur aus Gasthäusern, deren Tische die schmale Fahrspur zustellten, sodass man nicht sah, wo ein Restaurant endete und das nächste begann.
Es gab Straßen nur mit Buchhandlungen und Straßen nur mit Stoffgeschäften, vor denen große Tuchballen auf Holzgestellen lagen. Ilyas wunderte sich über die vielen Frauen, die ohne Mann und in ungewohnter Kleidung unterwegs waren. Nur wenige von ihnen waren züchtig gekleidet und trugen knöchellange Mäntel und Kopftücher.
Ab und an unterbrach er seine Streifzüge, um in einem der zahlreichen Kaffeehäuser Platz zu nehmen, in denen trotz des Namens meistens ausschließlich Tee ausgeschenkt wurde. Es waren einfach eingerichtete Räume, lediglich ein paar kahle Tische mit Hockern oder Stühlen davor. An den Tischen saßen alte Männer und spielten ein türkisches Brettspiel, dessen Regeln er nicht verstand und bei dem es recht lautstark zuging. Von den Wänden blätterte die Farbe, und die größten Löcher waren mit vergilbten Plakaten oder Kalenderblättern verdeckt.
Ilyas scherte das nicht. Er war das einfache Leben gewohnt, das spürte er. Wer er auch immer gewesen sein mochte, bevor er seine Erinnerung verlor, ein reicher Mann war er gewiss nicht. Er fühlte sich wohl hier unter den einfachen Leuten und in den engen Straßen, durch die sich diese Massen von Menschen schoben, die alle irgendwoher kamen und auf dem Weg irgendwohin waren.
Nur er hatte keine Herkunft und kein Ziel. Deshalb auch genoss er es so, in den Kaffeehäusern zu sitzen und zu beobachten, was rund um ihn vorging. Zugleich konnte er so am besten die Vielfalt der Eindrücke verarbeiten, denen er ausgesetzt war. Unablässig sah, hörte oder roch er etwas ihm Neues, und auch wenn er offenbar gewohnt war, sich in einer für ihn fremden Umgebung schnell zurechtzufinden und sich nicht zu leicht verwirren zu lassen, so war es doch eine Anstrengung, von der er sich dann und wann erholen musste.
Schließlich führte ihn sein Weg zum Großen Basar zurück. Er bummelte durch die endlosen Reihen mit ihren Unmengen von Ständen und Geschäften, die alle nur erdenkbarenDinge feilboten. Er blieb vor einem Verkaufsstand stehen, an dem ausschließlich Hemden angeboten wurden. Es waren zumeist weite, lange Baumwollhemden. Er entschloss sich, die Gelegenheit zu nutzen und sich von dem Hemd zu befreien, das ihm Seamus gegeben hatte. Er fühlte sich darin wie gefangen, in diesem Kragen, der den Hals einschloss, und den eng anliegenden Ärmeln, die keine Luft an die Haut ließen.
Der Händler erkannte den möglichen Kunden sofort und kam hinter seinem Tisch hervor. Er überfiel Ilyas mit einem Wortschwall, von dem er nur die Hälfte verstand.
»Ich möchte eines dieser Hemden anprobieren«, sagte er und deutete auf einen Kleiderständer, der so vollgehängt war, dass man einen großen Teil der Ware nicht erkennen konnte.
»Selbstverständlich, mein Herr, gerne.« Der Verkäufer nahm mit den Augen von ihm Maß und zog dann gezielt ein breitärmliges Hemd von dem Metallständer. Er hielt es Ilyas gegen den Körper.
»Das wird Ihnen sehr gut stehen«, strahlte er.
Ilyas knöpfte sein Oberhemd auf und zog es aus, ebenso wie das T-Shirt , das er darunter trug. Sofort fühlte er sich freier. Er reckte sich, atmete ein paar Mal tief durch und genoss es, die Luft auf seiner Haut zu spüren, bevor er das Hemd überstreifte, das ihm der Verkäufer hinhielt. Es fiel leicht über seinen Oberkörper und passte sich seinen Schultern perfekt an. Der Verkäufer zog ihn am Ärmel hinter den Tisch, wo ein mannshoher Spiegel stand. Ilyas machte sich los.
»Sehe ich aus wie ein Weib, das auf die Blicke der Gaffer Wert legt?«, herrschte er den Mann an. »Willst du mir vielleicht auch noch Schmuck oder Haarspangen verkaufen?«
Der Mann fuhr zurück. »Natürlich nicht, mein Herr. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich dachte nur, Sie wollten sehen … «
»Alles, was ich sehen muss, kann ich auch ohne
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