Assassino
Entfernung nicht erkennen konnte. Die beiden waren intensiv in ein Gespräch vertieft und hatten ihn noch nicht bemerkt.
Sofort schlüpfte Chris zurück ins Gebäude. Was war das für ein Mann? Und warum traf sich Seamus mit ihm, ohne ihnen etwas davon zu sagen? Oder vielmehr: Warum täuschte er ihnen ein Telefonat vor?
Chris beeilte sich, an seinen Platz zu gelangen, bevor der Ire zurückkehrte. Er wollte ihn nicht merken lassen, dass er sein heimliches Treffen beobachtet hatte. Aber er musste so bald wie möglich mit Kati darüber reden. Bei all ihrer Intelligenz war ihre Menschenkenntnis nicht besonders ausgeprägt, fand er. Sonst hätte sie sich nicht so leichtfertig auf Ilyas und Seamus eingelassen. Beide waren gleichermaßen zwielichtige Gestalten, über deren Vergangenheit und Motive sie nichts wussten.
Die Rückkehr des Iren unterbrach seinen Gedankenfluss. Mit einem freundlichen Nicken setzte er sich wieder und steckte das Mobiltelefon, das er demonstrativ in der Hand trug, in die Tasche.
Mit einem Stirnrunzeln vertiefte sich Chris in das Buch, das vor ihm lag. Als Kati eine Pause einlegte, folgte er ihr vor die Tür.
»Unser Freund verheimlicht uns etwas«, begann er. »Ich habe ihn vorhin beobachtet, wie er sich mit jemandem getroffen hat.«
»Du bist ihm gefolgt?«
»Seine Telefonierpause dauerte mir zu lange. Deshalb dachte ich, ich sehe mal nach, was er macht.«
»Und da hat er mit einem anderen Mann geredet?«
»Die beiden kamen um die Ecke, als ich vor die Tür trat. Da habe ich mich verzogen.«
»Und daraus schließt du jetzt, dass er nicht ganz koscher ist?«
»Warum sollte er sonst sagen, er geht telefonieren, wenn er sich in Wirklichkeit mit jemandem trifft?«
Kati zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber es geht uns doch auch gar nichts an. Oder informierst du Seamus über alles, was du tust?«
»Das ist doch was ganz anderes.« Chris beugte sich zu Kati hin. »Ich traue ihm nicht.«
»Du traust niemandem, den du nicht mindestens fünf Jahre kennst. Oder der so gut aussieht wie Paola«, erwiderte Kati.
Chris nahm die kleine Spitze wohl wahr, beschloss aber, nicht darauf zu reagieren. »Aber vielleicht hat er was mit diesen Überfällen zu tun?«, insistierte er. »Immerhin könnte er uns die Taschendiebe auf den Leib gehetzt haben. Außer Faruk Sen und Mustafa wusste nur Seamus, wo wir waren.«
»Das könnte er doch viel einfacher haben. Mein Notizbuch liegt die ganze Zeit in Sens Haus unbewacht herum. Wenn er wissen wollte, was da drinsteht, dann wäre es doch ein Leichtes, dort nachzusehen.«
»Na schön, da hast du auch wieder recht«, räumte Chris ein. »Aber trotzdem … «
»Du traust Seamus nicht, ich Paola. Vielleicht irren wir uns beide.«
»Auf jeden Fall kann etwas Vorsicht nicht schaden«, schloss Chris. »Ich werde unseren irischen Freund weiter im Auge behalten und du kannst dich ja auf Paola stürzen.«
»Und am Ende sind wir beide Paranoiker«, seufzte Kati.
Sie kehrten in die Bibliothek zurück. Chris musterte Seamus beim Eintreten aufmerksam, aber dem Iren war nichts anzumerken. Er seufzte leise. Diese ständigen Ungewissheiten nervten. Vor zwei Tagen war seine Welt noch klar geordnet gewesen. Und jetzt? Kati machte ihm Vorhaltungen wegen seines Misstrauens gegenüber Ilyas und Seamus, unbekannte Verfolger waren hinter ihnen her, und das Schlimmste war, dass Kati sich von dem Jungen in seinen Bann ziehen ließ und dabei so weit ging, ihre Überzeugungen infrage zu stellen.
Außerdem brummte sein Schädel immer noch.
2.
Am frühen Nachmittag beendeten sie ihre Nachforschungen und verabschiedeten sich vom Bibliothekar, der wie aus dem Nichts genau in dem Augenblick auftauchte, als sie fertig waren. Er empfahl ihnen zum Mittagessen ein Restaurant am Meer, und sie beschlossen, diesmal nicht mit dem Taxi zu fahren, sondern zu Fuß zu gehen.
Gemächlich bummelten sie durch die Gassen zum Ufer. Inzwischen war mehr Leben auf den Straßen, und aus vielen Lokalen, die sie passierten, duftete es verführerisch. Kati spürte ihren Hunger. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, aber das konzentrierte Arbeiten hatte sie wie immer ihre körperlichen Bedürfnisse ganz vergessen lassen.
In tiefen Zügen sog sie die exotischen Düfte ein, die auf sie einstürmten. Selbst die Abgase der Autos taten dem Genuss keinen Abbruch. Dazu kamen die Geräusche. Menschen, die sich unterhielten, Radios, die aus Fenstern oder Lokalen plärrten, lachende und
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