Assassino
weinende Kinder, das Klappern von Geschirr, Hupen, das Knattern von Motoren und das Brummen eines Flugzeugs über ihren Köpfen, das soeben den Flughafen von Istanbul ansteuerte.
Sie wunderte sich über die Intensität ihrer Empfindungen. Es war, als nähme sie zum ersten Mal eine Stadt mit allen ihren Facetten wahr und als sei von ihren Augen ein Schleier weggezogen worden, der zuvor alle Sinneseindrücke gedämpft hatte.
Einen Moment lang fürchtete sie, im Ansturm dieser Eindrücke unterzugehen, aber dann ordneten sich die Farben, Gerüche und Geräusche zu einem einheitlichen Ganzen. Sie genoss diesen Augenblick, der ihr eine Welt öffnete, die ihr bislang verschlossen war. Warum hatte sie das bisher nie so erlebt? Weil sie viel zu viel damit beschäftigt war, Aufgaben zu lösen. Erst in der Schule, dann für ihren Vater. Dabei war die Welt an ihr vorbeigezogen wie ein buntes Plakat, das sie zwar betrachtete, aber das kein Teil von ihr war.
Jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal wirklich
in
der Welt.Und die Ursache dafür war, so merkwürdig das klingen mochte, Ilyas. Mit seiner Direktheit und seiner Spontaneität hatte er sie berührt und eine Tür in ihrem Inneren geöffnet, die bislang verschlossen war.
Viel zu schnell erreichten sie das Restaurant am Ufer, von dem Seamus in den höchsten Tönen schwärmte. Sie nahmen auf der Terrasse Platz, auf der nur wenige Gäste saßen, und genossen den herrlichen Blick auf den Bosporus und auf die europäische Seite Istanbuls.
Ein paar Hundert Meter von der Küste entfernt lag eine kleine Insel im Meer, auf der ein gemauerter Turm in die Höhe ragte. Auf seiner Kuppel reckte sich ein Flaggenmast in die Höhe und an seinem Fuß drängten sich ein paar Gebäude.
»Was ist das?«, fragte Kati und deutete auf den Turm, an dessen Seite gerade ein Ausflugsboot festmachte.
»Das ist der Mädchenturm«, erwiderte Seamus. »Er ist rund 650 Jahre alt und besonders abends eine Attraktion, denn dann verwandelt er sich in ein Luxusrestaurant.« Er schmatzte genießerisch mit den Lippen.
»Und wieso heißt er so? Wurden da früher Mädchen gefangen gehalten?«
»Wie man’s nimmt. Die Legende erzählt, er sei die Heimat einer Königstochter gewesen. Kurz nach der Geburt des Mädchens prophezeite eine Wahrsagerin dem König, seine Tochter werde dereinst an einem Schlangenbiss sterben. Das versetzte ihn so in Panik, dass er sie auf das Inselchen bringen ließ, wo es keine Schlangen gab und wo sie rund um die Uhr gut bewacht wurde.«
»Was für ein furchtbares Leben.« Kati sah in ihrer Fantasie die einsame Königstochter vor sich, umgeben vom Wasser und ohne Aussicht, an Land gehen zu können. Sie hatte bestimmt sehr gelitten.
»Und vor allem hat es nichts gebracht. Zahlreiche junge Männer kannten die Geschichte der Prinzessin, und obwohl sie niemand je gesehen hatte, wollten viele sie zur Frau nehmen. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie begehrlich jemand werden kann, wenn ihn oder sie ein kleines Geheimnis umgibt, oder?« Er zwinkerte Kati zu.
Diesmal errötete sie nicht, auch wenn ihr natürlich klar war, wen er meinte. »Und wie ging die Geschichte am Ende aus?«, fragte sie.
»Nun, einer ihrer Verehrer hoffte das Herz der Königstochter mit einem Korb voller Obst zu gewinnen, den er ihr auf die Insel schickte. Unglücklicherweise hatte sich unter den Früchten eine Schlange eingenistet, und so kam es, wie es kommen musste.«
»Und das ist wirklich wahr?«, fragte Chris skeptisch.
»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht«, räumte Seamus ein. »Es gibt in der Türkei noch eine ganze Reihe anderer Mädchentürme, um die sich alle dieselbe Legende rankt. Und nur einer von ihnen kann das Original sein. Was aber stimmt: Früher wurde von der Insel, auf der heute der Turm steht, eine Kette bis auf die europäische Seite der Stadt gespannt, um damit die Einfahrt in den Bosporus zu blockieren. Und weltberühmt wurde er durch einen
James-Bond-Film
, der dort spielt.«
Der Kellner brachte ihr Essen. Als Vorspeise gab es
Lakerda
, einen marinierten Thunfisch mit Scheiben roher Zwiebeln,der auf der Zunge förmlich zerschmolz. Dazu gab es gegrillte
Hamsi,
Sardellen aus dem Schwarzen Meer.
Der Hauptgang bestand aus
Palamut
, einem Bonito, der in Schwärmen das Schwarze Meer bevölkert. »Der Bonito gehört ebenfalls zu den Thunfischarten«, erklärte Seamus, genüsslich kauend. »Wusstet ihr, dass die Türken für ein und denselben Fisch je nach Alter und Größe bis zu
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