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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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Monate Einzelhaft von derselben Erzieherin besucht. Wir quatschten beim Freigang über die Mauern hinweg oder bei den verschiedenen Diensten, Abwaschen, Saubermachen, die wir ebenfalls zusammen erledigten, immer zwei aus derselben Gruppe, Cine und ich im Wechsel mit anderen.
    Nach einem Vierteljahr würden wir zur Gruppe kommen. Von diesem Tag sprachen wir mit größerer Vorfreude als vom noch allzu fernen Tag unserer Entlassung, wir träumten von einer vita nuova , vom Vergessen der Vergangenheit im Glanz der Gruppe, gereinigt, gebügelt und gestärkt – kurz und gut: kleine Pensionsschülerinnen, Lämmchen, ein harmonischer Engelschor.
    Ach Cine, warum musste den glücklichen Plänen so eine verfluchte Wirklichkeit folgen? Warum wolltest du dir die Finger schmutzig machen, anstatt mich in aller Ruhe herumexperimentieren zu lassen? Ich wettete, probierte, wählte, weil ich nicht viel hatte, um meine Jugend und meine Langeweile zu füllen; du wusstest es, wir lachten darüber, wenn wir abends aus den gitterlosen Fenstern unserer Zimmer hingen (es war verboten, »unsere Zellen« zu sagen), manchmal hast du mit mir geschimpft … und dann wolltest du, deren Freundschaft ich liebte, mich mit deiner Liebe vollstopfen. Du hast gedacht, du könntest mir deine Gefühle aufpfropfen, mir ein Stück von deinem Herzen einnähen …
    Cine jedenfalls schlief dort oben, und ihr Traum nahm Gestalt an: Etwas wie »meine süßen Ohren« verblutete, verreckte langsam, hier, am Rand der Straße, die ich niemals mehr mit dir, Cine, oder mit Rolande oder irgendwem sonst entlangspazieren würde, weil ich überhaupt nie mehr laufen würde. So, wie ich mich auf das Trittbrett des Lasters gesetzt hatte, konnte ich mir keine andere Fortsetzung vorstellen, als mich hinzulegen und mich nicht mehr zu rühren.
    »Um diese Zeit fahren hier selten Autos«, sagte der Fahrer und kam zurück. »Geht’s?«
    »Nicht schlimmer als vorhin. Fahren Sie ruhig. Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Die werden mich sowieso bald suchen.«
    Aus der Dunkelheit tauchte ein Motorengeräusch auf. Der Mann rannte los. Ich sah seine Silhouette im Scheinwerferlicht wild gestikulieren. Wie schnell die Autos inzwischen rasen! Er lässt sich noch plattmachen. Ich drückte mich in den Schatten der Fahrerkabine und schloss die Augen.
    Das Auto hatte angehalten, eine Tür klappte, Schritte und Stimmen kamen näher. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich, wie der Fernfahrer vor einem Mann stand und auf ihn einredete, zur Mauer zeigte, dann auf mich … Der Mann stand mit dem Rücken zur Laterne und warf einen präzisen, gedrungenen Schatten, Hände in den Taschen, Kragen hochgeschlagen. Obwohl sie dicht neben mir sprachen, verstand ich fast nichts: Nebel, dicht wie Watte und durchsichtig wie Glas, trennte mich von ihnen, und ich versank immer tiefer darin, wie in Schlaf.
    »Zeigen Sie mal Ihren Fuß«, sagte die Gestalt.
    Mein steifes Knie schaffte es nicht, das Bein unter dem Trittbrett hervorzuholen; ich half ihm, indem ich mit beiden Händen an der Wade zog. Dann stützte ich mich reflexartig auf die Ferse, um aufzustehen, aber was ich da spürte, war so brutal, so hoffnungslos, dass ich aufgab und meinen Fuß in den Schatten und den Schlamm zurückfallen ließ.
    Der Mann hockte sich vor mich und bewegte den Strahl einer Taschenlampe, ich sah das glatte Blond seiner Haare, das rosa Ocker seines Ohrs und seiner Hand. Er richtete sich auf, machte die Lampe aus und ging mit dem Fahrer zu seinem Auto. Soll er doch gehen. Es war mir egal. Ich hatte wieder aufgegeben, zuzuhören und mich zu interessieren.
    Dann ging alles ganz schnell. Ein Arm legte sich um meine Schultern, ein anderer schob sich unter meine Knie, ich wurde hochgehoben, fortgetragen; das Gesicht des Mannes von eben war ganz nah, war über meinem, bewegte sich durch den Himmel und die Äste der Bäume. Er trug mich sicher und sanft, ich hatte den Schlamm verlassen und lief in seinen Armen zwischen Himmel und Erde. Der Mann bog in einen Trampelpfad ein, ging noch ein paar Meter, dann legte er mich vorsichtig auf den Boden. Als ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte ich einen großen Baum, Gras, Pfützen.
    »Mach bloß nicht den Mund auf und rühr dich vor allem nicht von der Stelle«, sagte der Mann und richtete sich auf. »Ich komm wieder und hol dich. Warte hier. Warte so lange wie nötig.«
    Und er ging. Kurz danach hörte ich die Motoren des LKWs und des Autos, Lichter glitten vorbei, dann

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