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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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auf, um sein Bandoneon aufzumachen, und fängt an, ein paar Akkorde zu klimpern, während er den Balg langsam auseinanderzieht. Ihm muss mächtig heiß sein, sein fetter Oberkörper ist nur von einem Unterhemd bedeckt. Ich sehe seine feuchten Achseln und die glänzende Stirn.
    »Haben Sie Ahnung von Musik?«
    Ich antworte vage: ein paar Jahre Geigenunterricht auf einem Provinzkonservatorium, Kenntnisse und Finger wegen fehlender Übung eingerostet, aber …
    »Hör mal, Julien«, unterbricht mich Pierre und stellt sein auseinandergezogenes Bandoneon ab, um nach seinem Glas – ein Viertel Wasser, zwei Tropfen Pastis, blasser, milchiger Apéro für pensionierte Trinker – zu greifen. »Bring ihr bei Gelegenheit eine Geige mit, dann kann sie den ganzen Tag darauf rumkratzen. Ach ja, und wenn du ein Tonbandgerät hast, denk an mich, ja? Und an das Solex-Mofa für Nini …«
    Julien sagt »Ja, ja«. Er sitzt entspannt auf seinem Stuhl, die Beine ausgestreckt.
    Ich spüre bei meinen Gastgebern ihm gegenüber eine unterwürfige Gier, getarnt mit dem kumpelhaften, vertraulichen Ton, mit dem sie ihren Respekt für den erfahrenen Dieb und die Herablassung für den armen Kerl, dem man aus der Klemme hilft, austarieren. Schließlich sind sie bereit, mich aufzunehmen, in Kenntnis der Sachlage, oder jedenfalls fast: Julien hat mich ohne genauere Angaben als »Minderjährige auf der Flucht« bezeichnet. Egal, ob ich aus dem Bau oder von meinen Eltern abgehauen bin, für sie bin ich ein Risiko. Pierre betont diese Tatsache mit Nachdruck, erwähnt bisherige und künftige Entschädigungen, redet unverblümt von dem Tag, an dem ich wieder gefasst werde und sie mich ausquetschen …
    Ich protestiere: »Aber vor vier Jahren, als die Bullen …«
    »Aua!« Pierre springt begeistert auf. »Da haben wir’s! Eins muss von Anfang an klar sein: Hier lebt mein Sohn, und ich verbiete, dass in seinem Beisein …«
    »Aber er ist doch gar nicht da!«
    »Ob er da ist oder nicht, egal. Gewöhnen Sie sich besser gleich daran: niemals ›Bullen‹, niemals ›Gefängnis‹, kein Wort davon. Ist das klar?«
    Offenbar bin ich wieder im Knast gelandet.
    Eigentlich ist mir das lieber als ein Verhör. Ich beschließe in dieser Minute, kein Wort mehr als das unbedingt Nötige zu sagen, so stumm zu sein, wie ich unbeweglich bin, und meiner Haxe das Vorrecht des Geschreis zu überlassen.
    Um vom Dienstmädchen zur Herrin aufzusteigen, hat sich Nini offenbar ihrer kulinarischen Begabung bedient: Das Huhn schmilzt, das Eis schmilzt nicht, der Kuchen ist locker. Die Wirtsleute spülen alles mit großen Gläsern Mineralwasser runter. Julien füllt mein Glas und seins. Für diesen Preis haben wir schließlich ein Recht auf den besten Fusel.
    Unter dem Tisch ist ein Querbrett. Ich habe mein Bein daruntergeschoben, habe es in einer Position eingeklemmt, wo der Schmerz geringer ist, die Zehen weniger oft explodieren. Die Explosionen sind gar nicht mehr schmerzhaft. Es ist ein intensiver, nicht unerwarteter Augenblick, man muss nur die Aufmerksamkeit darauf konzentrieren und unauffällig die Kiefer zusammenpressen, aber dabei die Lippen weiter zu einem Lächeln verziehen, ohne den Blick zu senken. So passt mein Auftreten zur allgemein vertretenen Diagnose: eine böse Verstauchung, in ein paar Wochen …
    Julien, lässt du uns endlich aufstehen? Ich habe zu viel getrunken und gegessen, ich bin müde. Ich würde gern plaudern, einen anständigen Gast abgeben, diese Leute irgendwie für mich gewinnen, obwohl ich bereits spüre, dass wir nichts finden werden, um uns zu mögen und zu verstehen. Sie sind die Höhle, ich bin die Ware. Kein Wunder, dass wir es eilig haben, einander loszuwerden. Aber meine Haxe allein weiß, worauf sie sich einlassen.
    »Müde, mein Küken?«, flüstert Julien.
    »Nicht so sehr, nur, na ja …«
    Seit Beginn der Mahlzeit komme ich mir wie ein kleines Mädchen vor, das schüchtern auf seinem Erwachsenenstuhl herumzappelt. Ich träume davon, würdevoll und diskret aufzustehen, »Entschuldigt mich einen Moment« zu sagen und entspannt, als hätte ich es gar nicht eilig, zum Ende des Ballsaals zu gehen, wo das Neonlicht der Toilette zwar nicht mehr leuchtet, aber das Pappschild noch lesbar ist.
    Julien muss mich wohl oder übel mit nachsichtigem Lächeln hintragen.
    »Schaffst du es allein?«
    »Keine Angst, ich falle schon nicht ins Loch.«
    Aber genau das passiert mir um ein Haar in der Stehtoilette, wo ich nur eine Fußstütze benutzen kann.

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