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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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erreichen. Ich krieche bis zum Kopfkissen. Von ganz nah ergründe ich Pore für Pore dieses Gesicht eines gefällten Mannes; ich wäre gern grausam und habe Lust auf Sanftheit. Ich bin eifersüchtig: Wach auf, oder mach, dass ich auch in deinen Schlaf komme.
    Zum Abendessen gehen wir wieder runter. Die Stunde rückt näher, wo ich hochgehievt, zugedeckt, geküsst und allein gelassen werde. Julien muss weg, in die Stadt zurück, wo er so tut, als arbeitete er. Er komme wieder, »bald, bald …«. Ich könnte brüllen. Ich bekleckere Ginettes Pullover mit ungeschickten Eigelbtropfen, was für eine Idee auch, Nini, Spiegelei! Ihre Eier sind klebrig, ich hasse sie, ich habe keinen Hunger. Julien, geh noch nicht weg, ich will mich erst betäuben.
    Ich säusle: »Darf ich noch einen Schluck von diesem hervorragenden Cognac haben?«
    »Sieh an. Offenbar trinken Sie ganz gern!«, sagt Pierre mit gerunzelter Stirn. Heute Abend ist sein Junge da, und er spielt für uns beide den Vater.
    Erbärmliche Lieferung: lahm, stumm, schlechte Klamotten und versoffen. Ich umklammere den Schwenker. Cognac, meine warme Perle, meine Farbe, mein Schlaf. Julien nimmt die Flasche und trägt sie zusammen mit mir in mein Zimmer. Er stellt sie in Reichweite. Bald sehe ich ihn nicht mehr, sehe ich nichts mehr, bis zum nächsten Tag.
    Eine weitere Woche verging. Nach der frischen, strahlenden Euphorie der Reise kühlte ich allmählich wieder ab. Der Mai fröstelte, und das Zimmer roch nach Feuchtigkeit. Ich hauste dort, in eine Wildlederjacke gehüllt, die der Allgemeinheit gehörte, Julien, seinen Freunden, mir, dem, der sie brauchte. Ich traute mich nicht, im Bett zu bleiben.
    Am ersten Abend, nach einem einsamen, schläfrigen Tag, hatte mir Nini auf einem Tablett eine anständige Mahlzeit hochgebracht, genug, um drei junge Mädchen mit ordentlichem Hunger sattzukriegen. Ich, mit verkümmertem Hunger, verdreifachte mein Magenvolumen und putzte alles weg. Am nächsten Morgen brachte Nini Butterbrote, die eine große Schale mit Milchkaffee umkränzten. Während sie ein professionell liebenswürdiges »Und, gut geschlafen?« trompetete, stellte sie das Radio an und riss das Fenster auf.
    Ich verschlang alles mit Musik und schlief wieder ein.
    Aber nachmittags kam Pierre mit leeren Händen herauf: »Wollen Sie kein Mittagessen?«
    »Eigentlich … eine Mahlzeit am Tag ist mir ganz recht. Das hat mir früher immer gereicht, ich gewöhne mich schnell wieder daran … Nein, danke, ich kann auf das Abendtablett warten.«
    »Hören Sie mal, das ist ja alles ganz nett, aber meine Frau ist nicht Ihr Dienstmädchen …« – wohl wahr, man kann nicht sein und gewesen sein – »… und ich finde, Sie könnten ruhig mit uns am Tisch essen. Ich trage Sie nach unten.«
    Das Tablett vom Vortag, wenn auch reich beladen, war trotzdem weniger schwer als ich. Aber um seine Logik nicht zu verwirren, erklärte ich Pierre, ich würde es schon schaffen, allein zum Beefsteak auf dem Familientisch zu gelangen.
    Fortan bebopte ich, sobald die Butterbrote vertilgt waren, bis zum Waschbecken, wusch mich gründlich mit eisigem Wasser, zog mich an. Dann lagerte ich das in schmerzhafter Frigidität erstarrte Bein auf dem halbwegs glattgezogenen Bett und wartete mit alten Zeitschriften, Hausfrauenprogramm und Zigaretten ungeduldig darauf, dass es Mittag wurde. Fünf vor zwölf rutschte ich auf dem Hintern die Treppe hinunter, durchquerte humpelnd die Bar – Fortschritt: Ich beugte jetzt das Knie ohne Hilfe der Hände – und erreichte die Küche. Es kam natürlich nicht infrage, zum Speisen den Speisesaal zu benutzen. Jeder Krümel des ersten Gelages war schon lange weggeputzt und verdaut.
    Pierres Mutter, kindisch und stumm; Pierre, der Riesenmengen von »Diät« (kiloweise Salat, riesige Steaks und literweise Contrex) verdrückte; Nini, die im Stehen aß und den nächsten Gang auf dem Herd überwachte, das alles schuf eine zerstückelte, mühsame Atmosphäre, in der das Essen der einzige Zwang wurde, der mir unmittelbar nutzte. Natürlich würde ich eines Tages über diese Visagen lachen, die Erinnerung würde reichlich stimulierenden Rohstoff für gute Laune bieten, aber zunächst musste ich meine Knochenmasse wiederherstellen, also essen, und ohne Widerspruch das Kalzium schlucken, das Nini in Form von dicken Milchnudelsuppen auftischte, erst mal musste ich laufen.
    »Das erfrischt«, sagte sie.
    Das Kalzium staute sich, die Stimmung auch. Und mein Bruch … Also wirklich,

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