Astragalus
Die verkrampften Finger rutschen an den weißen Kacheln ab, die Ferse hält den Hintern mehr recht als schlecht, die Hose fesselt meine Schenkel.
»Julien«, sage ich, als ich die Hände wieder hinter seinem Hals verschränke, »was machen wir jetzt?«
»Hab Geduld, in fünf Minuten machen wir Mittagsschlaf, nur noch einen Kaffee. Was willst du machen, so sind sie halt, gehen einem ziemlich auf den Geist. Aber darum musst du dich nicht kümmern, du bekommst das Essen ans Bett, hast ein Radio und deine Ruhe, ein Zimmer ganz für dich. Früher war das auch ein kleines Hotel …«
»Das sie für gutes Geld illegal weiterbetreiben? Schon gut, ich hab’s begriffen. Du kannst mich zum Tisch zurückbringen, ich bin ganz brav.«
Endlich, nach dem Kaffee, dem Verdauungsschnaps und dem Nachspülschnaps, überschreite ich wie eine Braut die Schwelle meiner neuen Bleibe. Ein Mittelklassezimmer: abgewetzter, aber tiefer Sessel, Heizung und Waschbecken gleichermaßen ohne heißes Wasser, Blumentapete, die sich natürlich mit der Tagesdecke beißt, der Spiegel, der wie immer zu hoch hängt, und die fleckigen und vergilbten Zeitungsseiten auf den Schrankbrettern. Ich packe mein Bündel aus, verteile alles möglichst großzügig. Im Tageslicht fehlt es Ginettes Unterhosen an Glanz, aber es kommt darauf an, den Raum auszufüllen.
Ich lege meine Kippen und die Streichhölzer auf den Stuhl neben das Kopfende des Bettes. Ganz langsam ziehe ich mich aus. Julien hat die Tür abgeschlossen, sich in Hemd und Hose hingelegt und sofort die Augen zugemacht. Mir ist schon früher seine Fähigkeit aufgefallen, augenblicklich vom Wachsein in den Tiefschlaf zu wechseln. Wenn er mal mein Viereck teilte, sagte er gute Nacht und schlief schon, während ich ihm noch antwortete. Dann amüsierte ich mich damit, mit den Fingerspitzen den Körper zu erkunden, den ich noch nie richtig gesehen hatte und der gerade ein paar Sekunden lang mir gehört hatte. So wenig war das also, so geringe Spuren durchzogen unsere Einsamkeit.
Ich legte die Hand auf seine Brust und fragte ihn mit leiser Stimme aus. Manchmal kam ein Dialog zustande, oder Julien träumte laut, und ich beugte mich aufmerksam über ihn, bedrückt von den riesigen Wänden des Unbekannten, die sich zwischen uns erhoben.
In einer Nacht sagte er: »Ich sehe dich … Du hast eine blau-weiß karierte Bluse an, du rennst durchs Gras …«
Im Gefängnis war die Uniform an Wochentagen eine Bluse, kariert, blau-weiß. Julien hatte sie natürlich nie gesehen, ich hatte ihm auch nicht davon erzählt.
»Aber du hast mich doch noch nie rennen sehen«, sagte ich zu dem Schläfer.
Als Julien aufgewacht war, lachte er sich halbtot: »Du hast selbst geträumt.«
Ich versuchte nicht mehr zu verstehen. Entweder würde ich sehr bald allein laufen, sehr bald zu den auf der Mauer zurückgelassenen Träumen aufbrechen und von diesen Wochen nur eine geheimnisvolle Erinnerung von unsagbarer Zärtlichkeit bewahren, einen Entwurf, den ich nicht ausführen würde, wenn ich das Mädchen wiederfände, das mir gefiel, um mit ihm meine Tage und Nächte zu verbringen; später kämen vielleicht die Langeweile und der träge Zerfall, aber die Bilder blieben im Album der Erinnerungen kleben und zögen neue nach sich … oder … oder ich lief noch lange in Juliens Armen, wir schliefen miteinander oder nicht, unwichtig, aber der Faden, der sich zwischen ihm und mir seit der Nacht der schwarzen Bäume gespannt hatte, würde fester werden und sich zusammenziehen, er, ich, er, ich …
Nein, nein. Das Leben würde ihn schon zerschneiden, den Faden, wie alle anderen.
Zum ersten Mal habe ich keine Lust, das Ende, nicht mal die Fortsetzung dieses Abenteuers zu erfahren. Da sitze ich nackt im Sessel und sehe den schlafenden Julien an. Ich würde gern so bleiben, reglos, mild, in der Stille, in der sich nur unser gleichmäßiges Atmen vernehmen lässt, ohne Bewegungen machen, Worte sagen zu müssen, die uns verändern und verraten. Diese Minute ist wahr und lebendig, ich dehne sie ewig aus …
Dann vergeht die Zeit wieder. Ich verstricke mich erneut in Fragen und Wünschen, ich stehe auf, klammere mich an den Schrank, um die zwei riesigen Meter zurückzulegen, die den Sessel vom Bett trennen. Auf dem ersten Meter schiebe ich meinen rechten Fuß seitlich voran, Ferse – Spitze, Ferse – Spitze, der Bebop des Sonntagsballs, da. Dann lasse ich mich mit vorgestreckten Armen fallen, um gerade noch das Fußende des Bettes zu
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