Astragalus
inzwischen musste er doch zusammengewachsen sein. Wenn auch ziemlich schief, war mein Knochen doch zusammengewachsen, er musste sich also endlich herablassen, mich zu tragen, auch wenn es ein bisschen quietschen sollte. Außerdem hatte ich die Nase voll von Pierres Witzchen – »Ohne Mumm in den Knochen bringt man’s zu nichts«, verkündete er, den Blick stur auf die Wand hinter meinem Kopf gerichtet –, ich hatte die Nase voll von den Zeitschriften und den Kalziumsuppen.
Nini hatte mir einen wollenen Männerstrumpf gegeben, den ich über die elastische Binde zog, um die violetten, eisigen, abgestorbenen Zehen aufzuwärmen. Sie erhitzte Wasser, füllte eine große Wanne, gab grobes Salz dazu und forderte mich auf, nach dem Mittagessen zu baden, nicht aus Fürsorge, sondern damit ich mein Zimmer räumte, während sie staubsaugte. Aber mein Fuß wurde nicht wieder lebendig.
Am siebten Morgen scheiterte mein Versuch, und ich polterte die Treppe hinunter, mit dem Kopf in den Wolken. Aufstehen war keine Frage von Leben und Tod mehr; ich versuchte es nicht. So fand mich Nini, die Hände umschlossen meinen Knöchel und die Lider meine Tränen.
»Warum haben Sie denn nicht gerufen? Haben Sie Schmerzen?«
Ich schluchzte, ja, schluchzte, dass ich nicht mehr könne, o Nini, machen Sie was, mein Bein stirbt.
»Julien hat angerufen«, sagte sie, »er denkt, dass er im Laufe des Tages vorbeikommt. Aber wir warten nicht auf ihn. Sie können nicht länger so bleiben. Ich rufe den Notarzt. Los, stützen Sie sich auf mich. Sie legen sich hin und rühren sich nicht vom Fleck. Ich kläre das mit Pierre.«
Pierre spielte, so nannte er es, »den Braven in der Fabrik«, wir hatten gut zwei Stunden vor uns.
Ich tat, als bekäme ich Angst: »Aber das ist schrecklich gefährlich! Und welchen Namen soll ich im Krankenhaus angeben? Ich habe doch keine Papiere …«
»Sie sind meine Schwester«, sagte Nini. »Ich bin für Sie verantwortlich, ich habe Sie großgezogen, einverstanden? Vergessen Sie … Vergiss nicht, mich zu duzen, wenn die Sanitäter kommen. Warte, ich rufe gleich an.«
Ich sammelte mein Zeug zusammen, als es an die Tür klopfte, ein leichtes Trommeln mit den Fingernägeln.
»Komm rein, Julien.« Ich konnte mich nicht irren, Nini pochte mit hartem Knöchel, Pierre drehte den Knauf und kam einfach herein, sowieso spielte Pierre nur den Braven: »Ich mache es, aber ich bin es nicht; ich könnte auch einsteigen, Julien, aber ich habe Frau und Kind« usw.
Bevor der Krankenwagen kam, hatten wir noch Zeit, miteinander zu schlafen.
4
»Haben Sie was gegessen?«, fragt die Krankenschwester.
»Ja: Brot und Milchkaffee.«
Essen, essen – was hat denn Essen damit zu tun! Werde ich jetzt behandelt oder nicht? Ich ergänze: »… und ich habe überhaupt keinen Hunger.«
»Umso besser, denn Sie müssen jetzt fasten. In einer Stunde erfolgt die Prämedikation.«
»Erfolgt was?«
»Sie werden für die OP vorbereitet, wenn Sie das verstehen. Jetzt rasiere ich erst mal Ihr Bein.«
Die Schwester ist zierlich und ganz jung. Ihre Stimme klingt freundlich, beruhigend, sie singt ihren barbarischen Jargon so, wie sie das Messer handhabt, mit der Sorgfalt eines noch neuen Wissens und Mitgefühls. Am liebsten würde ich mich überall enthaaren lassen, so gerührt bin ich: Endlich wird mein Bein ernst genommen. Ich bin von einem Extrem ins andere geraten, allmählich wünsche ich mir, dass es nicht zu ernst ist.
Die Pfleger hatten mich auf einem Stuhl von meinem Bett in den Krankenwagen getragen, dort war ich so sanft und weich gelandet, wie ein Luxusfahrstuhl – psss, der Boden empfing mich wie sechsunddreißigtausend Samtschichten. In der Notaufnahme legten sie mich auf den Röntgentisch, ein Pfleger trug den Körper, der andere das Bein. Nini, steif wie ein Besen, mit strengem Blick und zusammengepressten Lippen, zwang sich, meine Hand zu halten – ach, große Schwester, wie gleichgültig ist Ihre Hand, lassen Sie doch diese Komödie! Bei der Aufnahme wurden Ihre Angaben notiert, Ihre Anwesenheit hilft mir nicht, gehen Sie.
Stattdessen griff sie sich einen der Weißkittel und schaffte es, ihre Stimme besorgt klingen zu lassen: »Nun, Doktor? Ist es schlimm? Sie werden sie doch nicht hierbehalten?«
Ich richtete mich auf und lauschte, auf die Ellbogen gestützt, das Bein dem harten Licht ausgesetzt.
»Ich fürchte doch, Madame. Das ist ein böser Bruch, der Astragalus …«
Der Doktor bemerkte, dass ich auf seinen Mund
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