Astragalus
weißen Kragen, der aus dem marineblauen Anzug hervorsah: blau, blond, rasiert, rosa, der andere blau, rasiert, rosa und leicht ergraut. Mein Schicksal war von nun an, von einem Bett auf einen Autositz und von einem Autositz in ein Bett umzuziehen, hingelegt und herumkutschiert zu werden, wie es brüderlichen und fremden Männern gefiel, die mir nichts schuldeten und bei denen ich anschreiben musste.
Aber das war mir keineswegs peinlich, stattdessen fühlte ich mich enttäuscht, mürrisch, stellte stumme Forderungen: Alles steht mir zu, aber ich nehme es mir gern selbst. Ich kann nicht mehr selbst nehmen, und ich weiß nicht, darf nicht herausfinden, was man mir geben will.
Es ging uns so gut in den letzten Nächten, mein Lieber. Wenigstens in dem Bett, das du mir bereitet hattest, konnte ich dich verwöhnen. Ich versteckte meine erstaunte Rührung unter der einfachen Folge von Gesten; ich war unschuldig und wissend zugleich … Aber jetzt sind wir unterwegs, diese Rückenlehne ist dicker als die Mauer, die mich verletzt hat, die Türen sind verriegelt, und ich finde im sanften Schaukeln des Autos, das fährt und fährt, nur Empfindungen wieder, die vor dem liegen, was kürzlich noch mein Leben war. Ein Leben, das sich seit meiner Verhaftung herausgebildet hatte, jahrelang hatte ich es wuchern lassen, fröhlich absurd, naiv und abstoßend.
In jenem Leben wurde man niemals entführt, verwöhnt, versteckt. Man stand in der Dunkelheit der Bullenautos oder saß auf den harten Holzlatten. Aber in jenem Leben konnte man wenigstens klammheimlich die klare Grenze jedes Tages überspringen. Meine neue Freiheit hält mich gefangen und lähmt mich.
3
»Komm schon, Nini, zieh nicht so ein Gesicht, mach uns lieber eine Flasche auf.«
»Ja, natürlich. Monsieur freut sich, weil er jetzt seine Lieferung bei uns losgeworden ist.«
Nini ist dunkel, zart und knochig, wenig Brust, spitze, rougegefärbte Wangen, kleine, lebhafte Augen. Ihre ganze Weiblichkeit kommt vom Drumherum: Löckchen, enges Kleid, breite, aber hohe Absätze. Sie sieht aus wie eine Marionette, aber wahrscheinlich hat sie die Hosen an. Wenn ich richtig verstanden habe, war sie hier Kellnerin, bevor sie sich dem Wirt an den Hals geschmissen hat und der Mutter vom Wirt und dem Sohn vom Wirt gleich mit.
Der Fahrer, der mit uns anstoßen will (»Nur auf die Schnelle, meine Frau wartet«), Julien, der seine Schuhe gegen Latschen getauscht hat, Nini, ihr Lover Pierre und schließlich ich, die »Lieferung« – wir sind allein in der Kneipe. Kein Gast, kein Hin und Her, keine geschäftstüchtige Herzlichkeit. Seit der Schließung scheint Pierre Lächeln und Schulterklopfen mit allem anderen im Staub der verlassenen Kulisse ausrangiert zu haben. Der rustikale, glänzende Speisesaal ist mit der Bar durch eine breite Bogentür verbunden, deren Flügel offen stehen. Ich sehe den schmutzigen Tresen, unaufgeräumte Regale, leere Flaschen und Telefonbücher neben einem Wäschekorb und einem Bügeleisen, Papierstapel, Akten, Musiknoten. Ich frage mich, ob sie die Bude aus Frust vergammeln lassen, weil sie schließen mussten, oder ob sie die Hoffnung haben, bald wieder aufzumachen. Dann brauchten sie nur die Tische zurechtzurücken und einmal mit dem Staubtuch drüberzugehen.
Dieses Durcheinander verbreitet eine Stimmung aus aufgesetzt guter Laune und Traurigkeit. Mir, die ich an die Enge der Zellen gewöhnt bin, wird ein bisschen schwindlig bei so viel Raum: die Tanzfläche neben der Bar, die kein Bohnerwachs mehr glänzen lässt, die Orchesterloge mit den in ihren schwarzen Hüllen mumifizierten, an das Klavier oder die aufgestapelten Bänke gelehnten Instrumenten.
Über der Tanzfläche erhellt und entblößt ein Glasdach die Flächen mit der Präzision eines Scheinwerfers. Auf unserer Seite kommt die Sonne weniger grell durch die Fensterwand des Speisesaals und mit ihr das ganze Grün der Terrasse: Töpfe und Krüge in jeder Größe mit Pflanzen und Blumen aller Art haben die Tischchen verdrängt, an denen man im Freien trinken konnte. Weiter unten das Tor, der Weg, der Fluss.
Ich frage, um irgendwas zu sagen: »Kann man hier baden? Wenn man zehn Meter neben dem Wasser schläft, denkt man doch morgens bestimmt als Erstes daran, einen Kopfsprung zu machen.«
»Bei dem Schlamm!«, sagt Pierre. »Aber das ist wenigstens gut für die Krebse. Und es zieht Gäste an: ein Stückchen auf dem Akkordeon, ein Stückchen im Boot …«
Er verzichtet auf die Fortsetzung, steht
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