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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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mit Robert Mapplethorpe entzweit. Es sollte ein strenger Winter werden, nachdem ich warme, verlässliche Arme für andere, unsichere Arme verlassen hatte. Meine neue Liebe war ein Maler, der unangekündigt vorbeikam, mit lauter Stimme Passagen aus Notre-Dame-des-Fleurs vorlas, mit mir ins Bett ging und dann wochenlang verschwand.
    Das waren die Nächte des hundertmaligen Schlafs, nichts konnte meine rastlose Unruhe lindern. Gefangen zu sein in dem aufreibenden Drama des Wartens – auf die Muse, auf ihn – war qualvoll. Meine eigenen Worte reichten nicht aus, nur die eines anderen konnten Elend in Inspiration verwandeln.
    In Astragalus fand ich die Worte, aufgeschrieben von einer jungen Frau, die acht Jahre älter war als ich und jetzt tot. Im Lexikon fand sich kein Eintrag zu ihr, darum musste ich sie mir Silbe für Silbe zusammensetzen (wie ich es bei Genet getan hatte), in der Vorstellung, dass die Lebenserinnerungen eines Dichters durch Unwahrheiten hindurchgehen müssen, um die Wahrheit offenzulegen. Ich kochte Kaffee, türmte Kopfkissen in meinem Bett auf und fing an zu lesen. Astragalus war der Gelenkknochen, der Fakt und Fiktion miteinander verband.
    Wegen bewaffneten Raubüberfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt, springt die neunzehnjährige Anne von der Gefängnismauer, ein Zehn-Meter-Sturz. Sie bricht sich dabei den Knöchel und ist, über ihr eine Myriade unbarmherziger Sterne, scheinbar hilflos. Zierlich, aber zäh, schleppt sie sich vorwärts, bewegt sich Zentimeter für Zentimeter auf die Straße zu. Sie wird zum Glück aufgelesen von einem anderen Gejagten, einem kleinen Gauner namens Julien. Sie mustert ihn und weiß, er hat eingesessen, er verströmt diesen Ex-Häftlings-Geruch. Auf seinem Motorrad schlagen sie sich durch die klirrend kalte Nacht. Vor Tagesanbruch legt er ihren kleinen Körper vorsichtig ins Kinderbett eines Bekannten. Später wird sie zu einer misslaunigen und argwöhnischen Familie gebracht, in einen Raum im Obergeschoss, dann wieder zu einem Freund eines Freundes. So sieht sie aus, ihre sogenannte Befreiung: von einem Versteck ins nächste geschleppt zu werden.
    Sie schreibt von Unruheattacken. Wie war ihr Schlaf? Schlief sie im Gefängnis besser, weil sie sich nicht ständig umsehen musste? Wie schläft man, wenn man auf der Flucht ist und sich bei jedem zusammengekniffenen Auge fragen muss, ob Verrat droht? Ihr kaputtes Bein ist in Gips gepackt, aber noch mehr schmerzt der erschreckende Umstand, dass Julien an ihr Strichmädchen-Herz gerührt hat. Ihre starke Sehnsucht nach ihm ist selbst eine Art Gefängnisstrafe. Sie hat keine andere Wahl, als das Herumgereichtwerden zu ertragen. Hermes mit dem gebognen und gebrochnen Knöchel und einem grausam nutzlosen Flügelschuh.
    Die Heldin ist dazu verdammt, auf ihren innig geliebten Ganoven zu warten. Ihre Geschichte besteht aus Gerichtsverhandlungen, Fehltritten, Festnahmen und kleinen Freuden. Sie sind Figuren aus einem Buch, das sie geschrieben hat. In meinem Kopf war sie nicht länger fußlahm, sondern frei, in einem Bleistiftrock, einer ärmellosen, über der Taille geknoteten Bluse und mit einem Chiffontüchlein um den Hals. Sie war keine eins fünfzig groß, aber alles andere als ein zitternder Däumling. Vielmehr ein Stück Dynamit, das einen bei der Explosion wenn nicht töten, so doch in jedem Fall verstümmeln würde. Sie hat die ausgeprägte Fähigkeit, Situationen zu erfassen, Freier richtig einzuschätzen, jede einzelne Geste ihres Geliebten zu deuten, und ihre Einzeiler sind direkt und schneidend. »Du wolltest mich mit deiner Liebe vollstopfen.« Sie besitzt einen ganz eigenen, lebendigen Slang, ein mit lateinischen Einsprengseln durchsetztes Argot.
    Ein weiblicher Genet? Sie ist einfach sie. Sie hat einen unverwechselbaren, gehobenen Pokerface-Stil zwischen Poesie und Kriminalroman: »Ich war irgendwann vor Ostern abgehauen, aber nichts erstand auf.« Dieser lyrische Scharfsinn – »spottend und geläutert« – durchzieht ihre Erzählung, wie ein schmaler Fluss über die Felsen strömt, eine dunkle Ader, die sich teilt und wieder vereint. Albertine, die kleine Heilige der schreibenden Außenseiter. Wie schnell bin ich in ihre Welt hineingezogen worden – bereit, die ganze Nacht hindurch zu kritzeln, kannenweise kochend heißen Kaffee in mich hineinzukippen und nur zu unterbrechen, um den Lidstrich nachzuziehen. Ich sog ihr jugendliches Mantra begierig auf, ließ meinen formbaren Geist von ihm

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