Astragalus
und vereint. Natürlich hatten wir schon viel schmerzhaftere Zuchthäuser durchlaufen, aber noch nie hatten wir darin so klar und inbrünstig ersehnt und begehrt, unsere Träume waren weit und schal. Um die Minute von vorhin zu erschaffen, hatten wir drei Monate verbracht, diese »Kurzstrafe«, die unsere längste Nacht war.
Das Haus der Mutter liegt am Ende einer Gasse; dort endet die Stadt und beginnt die Leere des Landes, die Erde ohne unnützes Grün, dessen Wärme in den Rüben- und Kartoffelfeldern vergraben ist. Um dorthin zu gelangen, meiden wir die Vororte auf überwucherten, sumpfigen Wegen; sanft umhüllen uns die Rufe des endenden Tags und die Strahlen der untergehenden Sonne.
»Ich habe keine große Lust, zu dir zu gehen, weißt du …«
Diese Familie hat mich genug gesehen; bei Ginettes höflicher Herzlichkeit und Eddies grapschiger Kameraderie könnte ich schreien. Die Mutter ist voller Weisheit und zugleich arglos. Julien tritt die allgemeine Anspannung lachend mit Füßen, aber ich habe das Gefühl, mich anzuklammern …
Wahrscheinlich denken sie, dass ich Julien brauche, haben sie Angst, dass er den Verwahrer seiner Schätze wechselt? Juliens Familie erhebt Anspruch auf ihn, will ihn isolieren, am liebsten seine Frauen und Freunde auswählen … Die besitzergreifende Sorge während seiner Abwesenheit, über die er keine Rechenschaft ablegt, wird zum Murmeln, wenn er zurückkommt. Julien belastet sie, bringt die Bullen in seinem Kielwasser mit, und Ginette muss mitten in der Nacht aufstehen und ihm zu essen machen … Zum Glück pfeift Julien darauf.
»Ich bin schließlich der Sohn meiner Mutter.«
»Aber ich bin für sie nichts. Ich will sie nicht stören und auch nicht selbst gestört werden. Deine Mutter und die Kinder mag ich gern, aber …«
»Sie reden schon lange davon, eine Wohnung zu finden, aber sie denken gar nicht dran, zu suchen. Es passt ihnen gut, bei meiner Mutter zu bleiben, dann können sie die Kinder bei ihr lassen und jeden Abend irgendwo das Parkett polieren … Und meine Mutter hat die Kinder gern. Aber ich finde, dass sie im Moment schlecht aussieht. Ich schwöre dir, dass sich das ändern wird. Wir werden sie in Zukunft mitnehmen, mal einen Tag hierhin, mal dorthin, damit sie ein bisschen rauskommt und damit du sie besser kennenlernst. Dann suchen wir ihr eine kleine Hütte, wo sie ihre Ruhe hat und wo wir sie besuchen können, nur sie …«
Ich weiß nicht, ob die Mutter so glücklicher wäre, aber ich werde die Reinheit des Sonnenuntergangs nicht mit verrückten oder indiskreten Äußerungen ankratzen. Ich habe weder das Recht noch Lust, meine Meinung zu sagen, die obendrein unklar und belanglos ist. Julien kann seine Mutter mitnehmen, kann mich mitnehmen, wohin er will. Was zählt, ist, dass ich noch ein Stück neben ihm laufen kann, neben oder hinter ihm, aber dass ich ihn sehe und ihn berühre, wie heute, so lange es eben sein soll.
»Komm mit, sage ich dir. Vielleicht schlafen wir woanders, aber vorher sollen sie dich so wahrnehmen, wie ich dich heute Abend sehe: Anne, meine Liebe, meine Einzige …«
Er geht nicht weiter, ich bleibe auch stehen.
»Ich weiß nicht, wohin wir beide gehen«, fährt Julien fort, »aber wir gehen weit, lange …«
Die Häuser sind fern, die Erde unter unseren Füßen ist wie eine Insel. Unsichtbar, triumphierend singen Vögel. Das ist die Erinnerung an alles, das Vergessen von allem, das ist der Abend des Johannistags. Unser Kuss ist so harmonisch wie die Natur.
15
Das Auto hat weder das Geheimnisvolle noch die Herablassung eines Vollblüters. Um nicht aufzufallen, haben wir eine solide alte Karre gekauft, ein verbreitetes Modell, ohne Panoramascheiben, mit robuster Karosse; man fühlt sich darin weder eingeschüchtert noch zur Schau gestellt, man ist wie in einer Freundin. Unter mir schnurrt die Sitzbank.
»Müde?«, fragt Julien.
»Ich kann dir sagen, tot!«
Ich liege hinten. Das Auto ist genauso breit, wie ich lang bin. Die Füße auf der Lehne, der Kopf auf einem Berg von Klamotten, mir geht’s gut, ich schwebe. Hohe Masten, grüne Weite, Morgenhimmel, die Landschaften überlagern sich in den Augen; ich bin, ohne eintauchen zu wollen, am Rand eines Ozeans des Schlafes. Ich bleibe lieber bei Julien, sehe seine Haare und seinen Nacken, wie bei unserer ersten Reise. Schlafen werden wir später, wir müssen erst Leute besuchen, Freunde, die ganz oben in Pas-de-Calais wohnen und die Julien mir vorstellen will.
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