Astrella 02 - Brudernacht
stimmt’s?« sagt die kräftige Stimme des Mannes, an dem alles so groß ist, so riesig groß. »Und jetzt sei ein liebes Kind, sonst hole ich den Hund. – Abmarsch jetzt!«
Das Kind hört das Knurren des Hundes, obwohl der gar nicht da ist. Also geht es auf sein Zimmer. Erst dort schreit es, schreit alles aus sich heraus, auch die Angst vor dem großen Hund.
Der spätabendliche Jogger hatte mit der Karl-Olga-Eiche soeben den höchsten Punkt seiner Laufstrecke erreicht. Dort trippelte er zwei, drei Minuten auf der Stelle, bevor er sich wieder auf den Rückweg machte. Bodo, der Terrier des Joggers, schien sich ganz besonders darüber zu freuen; rasch hatte er seinem Herrchen beinahe fünfzig Meter abgenommen. Lemsack, er war der Jogger, konnte ihn bei der hereinbrechenden Dunkelheit auf diese Entfernung nur noch als einen sich bewegenden Schatten ausmachen. Dies beunruhigte ihn nicht. Er wusste, Bodo kannte die Strecke so gut, dass er notfalls auch allein nach Hause finden würde.
Nur wegen Bodo war Lemsack um diese Zeit noch unterwegs. Am liebsten blieb er zu Hause; mit Menschen konnte er nicht viel anfangen. Als Kinder schrien sie, als Erwachsene nörgelten sie und als Alte sabberten sie. Alles Eigenschaften, die in seinem Leben nichts verloren hatten. Besonders schreiende Kinder und sabbernde Alte konnte er nicht ausstehen. Nein, ihn drängte es nicht zu den Menschen. Genauso wenig hatte es ihn je danach gedrängt zu heiraten. Er war schon als Kind ein Einzelgänger gewesen, der nicht gern von anderen abhängig war. Dafür hatte er Bodo. Der Terrier war sein vierter Hund, seit er sich für diese Geschöpfe begeisterte.
Inzwischen war es dunkel geworden. Lemsack schaltete die mitgenommene Taschenlampe ein, wodurch er zu einem durch den Wald hüpfenden Lichtpunkt wurde.
Plötzlich hörte er vorn einen lauten, schmerzerfüllten Aufschrei. Er schien von einer Frau zu stammen. Wo war Bodo? Der Hund würde doch nicht …? Wieso war um diese Zeit überhaupt noch jemand auf dieser Strecke unterwegs? Lemsack hatte lange genug gebraucht, um sie zu finden; ihr herausragendes Merkmal war, dass ihm nie jemand begegnet war und er keine unerwünschten Gespräche führen musste.
Dann hörte er Bodo wütend bellen. Hatte er jemanden gestellt? Obschon ihn das Bellen seines Hundes beruhigte, fühlte er Kälteschauer auf seinem Rücken. War er zufällig auf eine Vergewaltigung gestoßen? In diesem Fall war es wahrscheinlich besser für ihn, einen anderen Weg zu wählen. Zwar fühlte er sich mit seinen 76 Jahren durchaus noch rüstig genug, um es mit dem einen oder anderen Jüngeren aufzunehmen. Doch das hieß ja nicht, das Schicksal unter allen Umständen herauszufordern. Wenn da vorn tatsächlich eine Vergewaltigung stattfand, kam er so oder so zu spät. Dann war es besser, wenn er schnellstmöglich zur nächsten Telefonzelle lief und die Polizei verständigte. Er wusste ja ungefähr, wo die Tat geschehen war, und hätte die Polizisten hinführen können. Lemsack bedauerte erstmals, keines dieser modernen Mobiltelefone bei sich zu haben. Anscheinend waren sie doch zu etwas nützlich. Allerdings könnte er sich auch verhört haben. Seit dem angeblichen Schrei waren inzwischen bestimmt zehn Sekunden verstrichen. Bodo hatte ebenfalls nicht mehr gebellt. Möglicherweise hatte sein treuer Begleiter auch nur ein Wild aufgeschreckt und war darüber selbst erschrocken. Also brauchte er sich um ihn keine Sorgen mehr zu machen. Er konnte am nicht mehr weit entfernten Waldrand auf Bodo warten, der ihn mit Sicherheit finden würde.
Lemsack wollte gerade in eine rechts abgehende Abzweigung einbiegen, die er im Lichtkegel seiner Taschenlampe entdeckt hatte, als er Bodo schmerzerfüllt aufjaulen hörte. Lemsack zuckte zusammen, stoppte übergangslos seinen Schritt. Bodo! Was war mit ihm? Irgendwer musste ihm etwas angetan haben!
Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, der Sache aus dem Weg zu gehen.
Schweißnass drehte Lemsack sich wieder der alten Laufrichtung zu und begann zu rennen. Dabei schrie er laut den Namen seines Hundes, um ihm auf diese Weise klarmachen, dass er auf dem Weg zu ihm war und ihm helfen würde, egal, worum es ging. Gleichzeitig beruhigte es Lemsack, seine eigene Stimme zu hören. Der Wald wurde dadurch heller, obwohl er nicht mehr sehen konnte als vorher. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden, beschleunigte seine Schritte und bedauerte, dass er doch nicht mehr der Jüngste war.
Und dann sah
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