Aszendent Blödmann
unscheinbare graue Maus«, unterbrach ich Charlotte bitter, »obwohl ich mir das oft sehnlich gewünscht habe. Eine graue Maus geht in der Masse unter. Einen Elefanten zu übersehen ist dagegen schon schwieriger.«
Ich war mit meinen Kilos geradezu zwangsläufig ins Auge gefallen. Und das schon seit frühester Kindheit. Was meine Mutter aber trotzdem nicht davon abgehalten hatte, mich erst in ein rosafarbenes kurzes Röckchen und dann ins Kinderballett zu stecken. Ein Wunder, dass niemand sie wegen seelischer Grausamkeit verklagt hatte. Während die anderen kleinen Mädchen in ihren Tutus ausgesehen hatten wie zarte Elfen und mit beneidenswerter Eleganz einen Schmetterling oder eine Blume tanzten, bewegte ich mich mit der Grazie eines Viertonners durch den Ballettsaal.
Wahrscheinlich um mich – oder auch sich selbst – zu trösten, behauptete meine Mutter steif und fest, meine überflüssigen Pfunde seien Babyspeck, der ganz von allein wieder verschwinden würde. Wohl dem, der an Wunder glaubt … Lange Zeit hatte ich ihr dieses Märchen auch tatsächlich abgekauft, aber irgendwann war ich dahintergekommen, dass der Finger nicht in der Nase stecken bleibt, wenn man darin herumbohrt, und dass die Erwachsenen es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau nehmen. Als ich herausfand, dass es kein Zufall war, dass der Weihnachtsmann die gleichen Schuhe trug wie Onkel Gustav, dämmerte mir langsam, dass auch an der Geschichte mit dem Babyspeck etwas faul war.
Trotz dieser Erkenntnis schaffte ich es nicht, meine überflüssigen Kilos loszuwerden. Im Gegenteil, es wurden sogar immer mehr. Während der Pubertät musste ich eine Tafel Schokolade nur sehnsüchtig anschauen, schon bekam ich auf der Waage die Quittung dafür. Es war zum Verrücktwerden! Und je frustrierter ich wurde, desto mehr aß ich. Ein Teufelskreis. In der Schule wurde ich wegen meines Übergewichts gehänselt. Meine Speckpölsterchen boten im wahrsten Sinne des Wortes jede Menge Angriffsfläche für Hohn und Spötteleien. Elefantenbaby war noch der liebevollste Spitzname, den meine Mitschüler sich für mich ausgedacht hatten.
Dass ich über mehr Grips als Oberweite verfügte – sowohl in puncto Aussehen als auch in puncto Intelligenz kam ich mehr auf meinen Vater – machte die Sache nicht gerade leichter. Dick und doof wäre möglicherweise noch eine Kombination gewesen, mit der man ein paar Mitleidspunkte hätte einheimsen können. Aber so war ich für alle – abgesehen von Charlotte, die tapfer zu mir hielt – einfach nur die fette Streberin.
Während ich als Außenseiterin galt, die gemieden wurde, als wären Pausbacken und ein dicker Hintern ansteckend, war Sunnyboy Kai einer der angesagtesten Jungs unserer Stufe. Eine Party ohne ihn? Undenkbar! Eher war man bereit, auf Bier zu verzichten. Es gab kaum ein Mädchen an unserer Schule, das nicht in ihn verknallt gewesen wäre. Er hätte sie alle haben können, doch aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen schien er an mir interessiert zu sein. Und ich dumme Gans hatte erst mein Herz und – zumindest in Gedanken – auch meine Unschuld an ihn verloren.
Als Kai mit mir zu flirten begann, hatte ich mein Glück kaum fassen können und schwebte auf Wolke Sieben, bevor ich ziemlich unsanft auf dem harten Boden der Realität landete. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer: Er war nicht scharf auf mich gewesen, sondern auf die Hausaufgaben, Referate und Spickzettel, mit denen ich ihn, blind vor Liebe, versorgt hatte. Vielleicht wäre alles nicht ganz so schlimm gewesen, wenn Kai mich, nachdem ich ihn erfolgreich durch die Abiturprüfungen geschummelt hatte, einfach nur abserviert hätte. Wenn er mich wie ein altes Kaugummi einfach unauffällig hinter der nächsten Ecke entsorgt hätte, wäre ich bestimmt schnell darüber hinweggekommen. Schließlich war ich Kummer gewöhnt. Aber nein, Kai hatte noch einen draufgesetzt und mich vor meinen Mitschülern bloßgestellt. Voller Bitterkeit erinnerte ich mich an den peinlichsten Moment meines Lebens, als …
Mit einem lauten Knall schloss Charlotte das Fotoalbum und riss mich so unsanft aus meinen düsteren Erinnerungen. »Und wie geht’s jetzt weiter?«
»Na, wie soll’s schon weitergehen?« Ich versuchte, dem beklemmenden Gefühl, das mich beim Gedanken an die kommenden Wochen überfiel, keine Beachtung zu schenken. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Ilka zu beweisen, was für einen unfähigen
Weitere Kostenlose Bücher