Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
nun bin ich schon eine Weile hier, und erst jetzt verstehe ich so langsam, was in den letzten Wochen und Monaten alles passiert ist und warum ich schließlich hier gelandet bin. Ja genau. Gelandet, wie ein Raumschiff. Zuerst kam ich mir hier auch wirklich so vor wie auf einem anderen Planeten. Ich bin so schnell gewesen in der letzten Zeit. Wie ein Raumschiff bin ich durchs Leben geflogen. So schnell, dass ich vieles gar nicht mehr sehen konnte, vor allem auch Dich. Das tut mir wahnsinnig leid und war für Dich bestimmt sehr schwer. Damit ich wieder langsamer werden kann, brauche ich Hilfe von speziellen Ärzten. Und spezielle Medizin.
Vielleicht hat Dir jemand gesagt: »Dein Papa ist in der Klapse.« Das ist die Kurzform von Klapsmühle, und so hat man den Ort, an dem ich gerade bin, früher genannt. Da kamen alle hin, die einen Klaps hatten. Ins Irrenhaus oder die Irrenanstalt. Dort sperrte man die Menschen ein, die an der Seele gelitten haben. Die Ärzte wussten damals so gut wie nichts über Krankheiten der Seele, und weil sie sich auch gar nicht richtig dafür interessierten, sagten sie zu den Kranken, sie hätten dementia praecox . Das ist Latein und heißt nicht etwa alter Apfel, sondern vorzeitige Verblödung. Was für eine Unverschämtheit! In Wien, der Hauptstadt von Österreich, gab es sogar einen Narrenturm, in den man sie einfach reinsteckte.
Du siehst, man hat sich früher nicht viel Mühe mit den Verrückten gegeben. Das ist heute zum Glück anders. Heute heißt die Klapse psychiatrische Klinik. Ein Wort, das man kaum aussprechen kann und das irgendwie unheimlich klingt. Darum habe ich mir überlegt, dass ich sie einfach Wolkenkuckucksheim nenne.
Wolkenkuckucksheim kommt aus einem Theaterstück, das ein Grieche vor ganz langer Zeit geschrieben hat. Die Vögel von Aristophanes. In diesem Stück übernehmen die Vögel die Weltherrschaft und erbauen eine eigene Stadt im Himmel. Sie heißt Wolkenkuckucksheim. Das passt doch gut. Man sagt schließlich auch: »Du hast echt einen Vogel!« Oder: »Du hast ’ne Meise!« Die Spezialärzte hier nenne ich einfach Meisendoktoren, denn sie sollen mir dabei helfen, meine Meise einzufangen.
Du fragst Dich jetzt bestimmt, wie ich diese Meise überhaupt bekommen habe. Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Selbst ganz schlaue Forscher haben darauf noch keine Antwort gefunden. Einige sagen, es sei Vererbung. Das heißt, jemand in der Familie hat das schon gehabt, und so ist es weitergegeben worden. Wie eine besonders große Nase.
Das kann gut sein. Die Meisenveranlagung bei mir kommt aus der Familie von Omi Frauke. Es gab einen Onkel von Omi. Der hieß wie Du Matz und hatte drei jüngere Schwestern. Meine Oma, die eine seiner Schwestern war und die ich immer Mima genannt habe, hing sehr an ihm. Leider ist er früh gestorben. Er soll ein ganz schöner Schlawiner gewesen sein, pfiffig, lebhaft und gerissen. Und er hatte auch ’ne Meise. Nur hat man damals eben nicht erkannt, dass er krank war. »Der spinnt«, haben die Leute gesagt, und das war es dann. Geholfen wurde ihm nicht. Weil Onkel Matz mir durch die Erzählungen von Mima sehr vertraut war und weil er mir gleichzeitig lustig, aber auch unbegreiflich vorkam, wollte ich, dass Du seinen Namen trägst. Ich habe mir genau so einen lustigen und frechen Jungen gewünscht. Natürlich keinen verrückten, aber einen kleinen Schlawiner schon.
Eine Cousine von Omi, Tante Marion, hat es auch. Sie war schon öfter in Wolkenkuckucksheim. Jedes Mal, wenn es ihr wieder besserging, hat sie die Tabletten nicht mehr genommen, und dann ist die Meise umso stärker zurückgekehrt. Wenn die Meise bei ihr besonders stark wütet, ruft sie Omi Frauke an, um sie zu beschimpfen. Früher hat sie Mima angerufen. Tante Marion fühlt sich wegen irgendetwas in der Vergangenheit betrogen, kann aber nicht genau sagen, was es ist. Am Telefon droht sie immer: »Ihr werdet noch sehen.« Auch mein Cousin George in Amerika, der Sohn von Hans-Peter, hat ’ne Meise.
Das, was wir alle haben, nennen die Ärzte nicht Meise oder Vogel, sondern bipolar-affektive Störung. Klingt nach Affen am Nordpol. Affige Polarforscher. So bin ich mir auch ein wenig vorgekommen. Wie ein Polarforscher. Nicht so wie einer im Schneeanzug im ewigen Eis. Aber so wie ein Forscher, der die Pole auskundschaftet. Ich meine damit die Endpunkte der Erde, oben und unten. Da, wo es nicht mehr weitergeht. Zum Nordpol muss man eine weite Strecke zurücklegen. Das habe
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