Atemschaukel
gestiegen.
Der Hungerengel denkt nicht. Er denkt richtig.
Er fehlt nie.
Er kennt meine Grenzen und weiß seine Richtung.
Er weiß meine Herkunft und kennt seine Wirkung.
Er hat es gewusst, bevor er mich traf, und kennt meine Zukunft.
Er hängt wie Quecksilber in allen Kapillaren. Eine Süße im Gaumen. Da hat der Luftdruck Magen und Brustkorb gepresst. Angst ist zu viel.
Alles ist leicht geworden.
Der Hungerengel geht offenen Auges einseitig. Er taumelt enge Kreise und balanciert auf der Atemschaukel. Er kennt das Heimweh im Hirn und in der Luft Sackgassen.
Der Luftengel geht offenen Hungers andererseits.
Er flüstert sich und mir ins Ohr: Wo aufgeladen wird, kann auch abgeladen werden. Er ist aus demselben Fleisch, das er betrügt. Betrogen haben wird.
Er kennt das Eigenbrot und das Wangenbrot und schickt den weißen Hasen vor.
Er sagt, er kommt wieder, bleibt aber da.
Wenn er kommt, dann kommt er stark.
Die Klarheit ist groß:
1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.
Der Hunger ist ein Gegenstand.
Die lateinischen Geheimnisse
Nach dem Kantinenfraß rücken wir die langen Holztische und Bänke an die Wand. Wir dürfen hie und da samstags tanzen bis nachts um Viertel vor zwölf. Dann räumen wir alles wieder zurück. Um Punkt zwölf kommt aus dem Hoflautsprecher die russische Hymne, dann muss jeder in seiner Baracke sein. Samstags haben die Wachposten gute Laune vom Zuckerrübenschnaps, da fliegt leicht eine Kugel. Wenn Sonntag morgens einer im Hof liegt, heißt es: Fluchtversuch. Dass er in der Unterhose über den Hof zur Latrine eilen musste, weil sein ausgewaschenes Gedärm die Krautsuppe nicht mehr verdaut, ist keine Entschuldigung.
Trotzdem schieben wir hie und da einen Tango im Kantinensamstag. Wenn man tanzt, lebt man auf den Fußspitzen wie die Mondsichelmadonna im Café Martini, in der Welt, aus der man kommt. In einem Tanzsaal mit Girlanden und Lampions, mit Abendkleidern, Broschen, Krawatten, Einstecktüchern und Manschettenknöpfen. Meine Mutter mit zwei spiraligen Wangenlocken und einem Dutt wie ein Weidenkörbchen tanzt in hellbraunen Sandalen mit hohen Stöckeln und dünnen Fersenriemen wie Birnenschalen. Sie trägt ein grünes Kleid aus Atlasseide und genau auf dem Herzen eine Brosche mit vier Smaragden, den Glücksklee. Und mein Vater den sandgrauen Anzug mit weißem Einstecktuch und einer weißen Nelke im Knopfloch.
Ich aber tanze als Zwangsarbeiter und trage Läuse in der Pufoaika und stinkige Fußlappen in den Gummigaloschenund werde schwindlig vom Tanzsaal daheim und der Leere im Magen. Ich tanze mit der einen von den zwei Zirris, mit der Zirri Kaunz, die seidene Härchen auf den Händen hat. Die andere mit der olivgroßen Warze unterm Ringfinger heißt Zirri Wandschneider. Die Zirri Kaunz versichert mir beim Tanzen, dass sie aus Kastenholz kommt, nicht wie die andere aus Wurmloch. Und dass ihre Mutter in Agneteln aufgewachsen ist und ihr Vater in Wolkendorf. Dass ihre Eltern, bevor sie zur Welt kam, nach Kastenholz gezogen sind, weil ihr Vater dort einen großen Weingarten gekauft hat. Es gibt auch ein Dorf, das heißt Liebling, sage ich, und eine Stadt, die heißt Großscham, aber nicht in Siebenbürgen, sondern im Banat. Vom Banat versteh ich nichts, sagt die Zirri, da kenn ich mich nicht aus. Ich auch nicht, sage ich und drehe mich in meiner verschwitzten Pufoaika um die Zirri, und ihre verschwitzte Pufoaika dreht sich um mich. Die ganze Kantine dreht sich. Es gibt nichts zu verstehen, wenn sich alles dreht. Auch die Holzhäuser hinterm Lager muss man nicht verstehen, sage ich, sie heißen Finnenhäuser, in ihnen wohnen aber russische Ukrainer.
Nach der Pause kommt der Tango. Ich tanze mit der anderen Zirri. Unsere Sängerin, die Loni Mich, steht einen halben Schritt vor den Musikanten. Bei der Paloma geht sie noch einen halben Schritt vor, weil sie das Lied ganz für sich haben will. Die Arme und Beine hält sie steif, die Augen rollen, der Kopf wiegt sich. Ihr Kropfansatz zittert, die Stimme wird rauh wie der Sog von tiefem Wasser:
Und schnell geht ein Schiff zugrunde
Früh oder spät schlägt
Jedem von uns die Stunde
Auf Matrosen ohé
Einmal muss es vorbei sein
Einmal holt uns die See
Und das Meer gibt keinen
Von uns zurück
Bei der plissiert getanzten Paloma hat jeder zu schweigen. Da wird man sprachlos und denkt, woran man muss, wenn man auch nicht will. Da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste. Die Zirri lässt die Füße schleifen, ich drücke ihr die
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