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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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beide. Dann sah ich den einbeinigen Jungen wieder und trank noch einen Becher rotes Himbeerwasser. Danach zählte ich mein Geld, 1 Rubel und 6 Kopeken. Das reichte nicht mehr für Zucker, nicht einmal für Salz. Die Frau mit den Dörrpflaumen hatte mir beim Zählen zugeschaut mit einem braunen Auge und einem ganz weißen, ohne Pupille, wie eine Bohne. Ich zeigte ihr mein Geld in der Hand. Sie drückte das Geld von sich weg, sagte neinund schlenkerte die Arme so, wie man Fliegen vertreibt. Ich blieb angewurzelt und zeigte ihr weiter mein Geld. Ich fing an zu zittern und bekreuzigte mich und murmelte wie beim Gebet: Vaterunser, hilf mir vor dieser grausig gottverdammten Schildkröte. Führe sie in Versuchung, mein Herr, und erlöse mich von dem Übel, murmelte ich und dachte an die kalte Heiligkeit von Fenja und sagte am Ende des Gemurmels ein hartes, klares AMEN, um der Fürbitte eine Form zu geben. Die Frau war gerührt und fixierte mich mit dem Bohnenauge. Dann nahm sie mein Geld und füllte eine grüne alte Kosakenkappe mit Dörrpflaumen. Die Hälfte davon leerte ich in mein Kissen, den Rest in meine Wattemütze, um sie gleich zu essen. Und als die Pflaumen aus der Mütze alle waren, aß ich die beiden übrigen Pfannkuchen aus dem Kissen. Außer den übriggebliebenen Dörrpflaumen war nichts mehr in dem Kissen drin.
    Der Wind flog warm durch die Akazien, der Schlamm trocknete und schälte sich in den Pfützen wie graue Tassen. Auf dem Trampelpfad neben der Straße zum Lager ging eine Ziege im Kreis herum. Ihr Hals war aufgerieben, weil sie ständig am Strick zog. Er war so oft um den Pflock gewickelt, dass sie nicht mehr ans Gras reichte. Sie hatte einen länglichgrünen abgleitenden Blick wie Bea Zakel und eine Gequältheit wie Fenja. Sie wollte hinter mir her. Ich dachte an die blauen, dürrgefrorenen, der Länge nach durchgehackten Ziegen, die wir damals im Viehwaggon verheizt hatten. Ich war erst auf dem halben Rückweg, es war zu spät geworden und dann am Lagertor auch noch mit Dörrpflaumen. Damit sie vor den Wachposten sicher sind, griff ich ins Kissen und aß. Durch die Pappeln hinterm Russendorf sah man schon den Kühlturm der Fabrik.Über seiner weißen Wolke wurde die Sonne viereckig und schlüpfte mir in den Mund. Mein Gaumen war wie zugemauert, ich schnappte nach Luft. Der Magen stach, die Därme rumpelten und drehten sich wie Krummsäbel im Bauch. Die Augen gingen mir über, der Kühlturm begann sich zu drehen. Ich lehnte mich an einen Maulbeerbaum, und die Erde unter ihm begann sich zu drehen. Ein Lastauto begann auf der Straße zu flattern. Auf dem Gehweg begannen drei streunende Hunde ineinander zu schwimmen. Ich kotzte an den Baum, und es tat mir so leid um das ganze teure Essen, dass ich kotzte und weinte.
    Dann lag alles da am Maulbeerbaum und glitzerte.
    Alles, alles, alles.
    Ich lehnte den Kopf an den Stamm und schaute in das kleinzerkaute Glitzern, als könnte ich es durch die Augen wieder essen. Unterm ersten Wachturm ging ich dann im leeren Wind, mit leerem Kissen und leerem Magen. Derselbe wie vorher, nur ohne Ledergamaschen. Lebensgamaschen. Der Wachposten spuckte Sonnenblumenkernschalen vom Turm, sie segelten in der Luft wie Fliegen. Die Leere in mir war gallenbitter, mir war so schlecht. Doch bei den ersten Schritten im Lagerhof dachte ich schon wieder, ob es jetzt in der Kantine noch Krautsuppe gibt. Die Kantine hatte schon zu. Und im klappernden Takt meiner Holzschuhe sagte ich mir:
    Es gibt die Matrone mit ihrer weißen Wolke. Meine Schaufel gibt es und einen Platz in der Baracke und bestimmt auch eine Lücke zwischen Hunger und Krepieren. Ich muss sie nur finden, weil das Essen stärker ist als ich. Die kalte Heiligkeit der lahmenden Fenja denkt richtig. Sie ist gerecht und teilt mir das Essen ein. Wozu auf den Basar, dasLager hält mich eingesperrt zu meinem Wohl, man kann mich nur dort zum Gespött machen, wo ich nicht hingehöre. Im Lager bin ich zu Hause, der Wachposten vom Vormittag hat mich erkannt, er hat mich zum Tor hereingewinkt. Und sein Wachhund ist auf dem warmen Pflaster liegengeblieben, er kennt mich auch. Und der Appellplatz kennt mich, ich finde den Weg zu meiner Baracke sogar mit geschlossenen Augen. Ich brauche keinen Freigang, ich habe das Lager, und das Lager hat mich. Ich brauche nur ein Bettgestell und Fenjas Brot und meinen Blechnapf. Nicht einmal den Leo Auberg brauche ich.

Vom Hungerengel
    Der Hunger ist ein Gegenstand.
    Der Engel ist ins Hirn

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