Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
Vom Netzwerk:
saß, kam er zielstrebig zu mir und gab mir eine Ohrfeige. Als ich mir die Tränen aus den Augen wischen wollte, schrie er, Hände auf den Rücken.

10 Rubel
    Bea Zakel hatte mir von Tur Prikulitsch einen Propusk, einen Passierschein für den Basar, beschafft. Von der Aussicht auf einen Freigang darf man keinem Hungrigen erzählen. Ich sagte es niemandem. Ich nahm mein Kissen und die Ledergamaschen vom Herrn Carp, es ging wie immer ums Tauschmanöver der Kalorien. Um 11 Uhr machte ich mich auf den Weg, machten wir uns auf den Weg, mein Hunger und ich.
    Es war noch dunstig vom Regen. Im Schlamm standen Händler mit Rostschrauben und Zahnrädern und Hutzelweiber mit Blechgeschirr und Häufchen blauer Malfarbe für die Häuser. Um die Farbe herum waren die Pfützen blau. Und daneben lagen Haufen von Zucker und Salz, Dörrpflaumen, Maismehl, Hirse, Graupen und Erbsen. Sogar Maiskuchen mit Zuckerrübenbrei auf grünen Meerrettichblättern. Frauen ohne Zähne mit dicker Sauermilch in Blechkanistern und ein einbeiniger Junge mit einer Krücke und einem Eimer voll rotem Himbeerwasser. Flinke Vagabunden liefen herum mit verbogenen Messern, Gabeln und Angelruten. In amerikanischen Konservendosen flitzten silbrige Fischchen wie lebende Sicherheitsnadeln.
    Mit meinen Ledergamaschen auf dem Arm schob ich mich durchs Gewühl. Vor einem alten Uniformierten mit kahlen Löchern im Haar und einem Brustschild aus Dutzenden Kriegsabzeichen lagen zwei Bücher, eines über den Popokatepetl und eines mit zwei dicken Flöhen auf dem Umschlag.Ich blätterte das Flohbuch durch, weil es viele Bilder hatte. Zwei Flöhe auf einer Schaukel, daneben die Hand des Dompteurs mit einer winzigen Peitsche; ein Floh auf der Lehne eines Schaukelstuhls; ein Floh, eingespannt vor eine Hochzeitskutsche aus einer Nuss-Schale; die Brust eines Jungen mit zwei Flöhen zwischen den Brustwarzen und symmetrisch bis zum Nabel hinunter zwei gleichlange Ketten aus Flohbissen.
    Der Uniformierte zog mir die Ledergamaschen vom Arm und hielt sie vor seine Brust, dann auf die Schulter. Ich zeigte ihm, sie sind für die Beine. Er lachte hohl aus dem Bauch, wie Tur Prikulitsch beim Appell manchmal lachte, wie große Truthähne bellen. Seine Oberlippe blieb immer wieder an einem Zahnstumpf hängen. Der Händler daneben kam hinzu, rieb die Lederschnürchen der Gamaschen zwischen seinen Fingern. Dann kam einer mit Messern in der Hand, steckte seine Ware in die Rocktasche und hielt sich die Gamaschen links und rechts an beide Hüften, dann an den Hintern und hüpfte dabei wie ein Narr. Und der Uniformierte mit dem Zahnstumpf machte mit dem Mund Furzgeräusche dazu. Dann kam einer mit zugewickeltem Hals und einer Krücke, deren Armstütze eine abgebrochene, mit Fetzen umwickelte Sense war. Er schlüpfte mit dem Krückstock in die eine Gamasche hinein und schleuderte sie in die Luft. Ich lief hin und hob sie auf. Und ein Stückchen weiter kam meine zweite Gamasche geflogen. Und als ich mich nach der zweiten bückte, lag außer der Gamasche auch ein zerknüllter Geldschein im Schlamm.
    Den hatte jemand verloren, hoffentlich vermisst er ihn noch nicht, dachte ich. Vielleicht sucht er ihn auch schon, vielleicht hat auch einer aus der Horde schon während desGespötts oder gerade jetzt, wo ich mich bücke, den Geldschein gesehen und schaut, was ich tu. Die Horde lachte noch über mich und meine Gamaschen, und ich hatte das Geld schon in der Faust.
    Ich musste mich rasch unsichtbar machen, ich drückte mich ins Gewühl. Ich presste die Ledergamaschen unter den Arm und strich den Schein glatt, es waren 10 Rubel.
    10 Rubel, das war ein Vermögen. Nicht rechnen, nur essen, dachte ich, und was ich nicht essen kann, geht ins Kissen. Ich hatte keine Zeit mehr für Ledergamaschen, diese peinliche Ware von einem anderen Stern machte mich nur auffällig. Ich ließ sie aus der Achsel auf den Boden fallen und flitzte mit meinen 10 Rubel wie ein Silberfischchen in die andere Richtung.
    Mein Hals pochte, ich war in Angstschweiß gebadet und kaufte mir für 2 Rubel zwei Becher rotes Himbeerwasser und trank sie in einem Zug leer. Dann kaufte ich zwei Maiskuchen mit Zuckerrübenbrei, auch die Meerrettichblätter aß ich mit, sie waren bitter, für den Magen ganz bestimmt gesund wie eine Medizin. Dann kaufte ich vier russische Pfannkuchen mit Käse gefüllt. Zwei fürs Kissen, zwei aß ich. Danach trank ich ein Kännchen dicker Sauermilch. Ich kaufte mir noch zwei Stück Sonnenblumenkuchen und aß

Weitere Kostenlose Bücher