Atemschaukel
Krätze, Zahnfleischschrumpfen mit Zahnausfall,Zahnfäulnis. Erfrierungen erwähnt die Trudi Pelikan nicht. Auch nicht die Gesichtserfrierungen mit ziegelroter Haut und eckigen, weißen Flecken, die in der ersten Frühjahrswärme dunkelbraun werden, wie sie schon jetzt die Gesichter der Tanzenden färben. Und weil ich nichts sage und nichts frage, gar nichts, zwickt mich die Trudi Pelikan fest in den Arm und sagt:
Leo, ich meine es ernst, stirb nicht im Winter.
Und der Trommler singt mit der Loni zweistimmig:
Seemann lass das Träumen
Denk nicht an zu Haus
Die Trudi sagt in dieses Lied hinein, dass die Toten den ganzen Winter im Hinterhof gestapelt und mit Schnee zugeschaufelt, ein paar Nächte liegenbleiben, bis sie hart genug gefroren sind. Dass die Totengräber faule Halunken sind, dass sie die Leichen in Stücke hacken, damit sie kein Grab schaufeln müssen, nur ein Loch.
Ich habe der Trudi Pelikan gut zugehört und spüre von allen lateinischen Geheimnissen ein bisschen was in mir. Die Musik ermuntert den Tod, er kann schunkeln.
Ich fliehe aus der Musik in meine Baracke. Auf den beiden Wachtürmen an der Straßenseite des Lagerhofs stehen die Posten schmal und starr wie aus dem Mond gestiegen. Aus den Bewachungslaternen fließt Milch, aus der Wachstube am Lagereingang fliegt Gelächter in den Hof, dort wird wieder Zuckerrübenschnaps gesoffen. Und auf dem Lagerkorso sitzt ein Wachhund. Er hat grüne Glut in den Augen, zwischen seinen Pfoten liegt ein Knochen. Ich glaube, es ist ein Hühnerknochen, ich beneide ihn. Er spürte es und knurrt. Ich muss etwas tun, damit er mich nicht anspringt und sage: Wanja.
Er heißt bestimmt nicht so, schaut mich aber an, als könnte auch er meinen Namen sagen, wenn er nur wollte. Ich muss weg, bevor er es tut, mache große Schritte und drehe mich ein paarmal um, dass er mir ja nicht nachkommt. An der Barackentür angelangt, sehe ich, dass er sich noch immer nicht nach dem Knochen bückt. Er schaut mir noch immer nach oder meiner Stimme und dem Wanja. Auch einem Wachhund geht das Gedächtnis weg und kommt wieder. Und der Hunger geht nicht weg und kommt wieder. Und die Einsamkeit ist wie er. Vielleicht heißt die russische Einsamkeit Wanja.
Angezogen wie ich bin, krieche ich in mein Bettgestell. Wie immer brennt das Dienstlicht überm Holztischchen. Wie immer, wenn ich nicht einschlafen kann, starre ich das Ofenrohr an mit seinen schwarzen Kniefalten und die zwei eisernen Tannenzapfen der Kuckucksuhr. Dann aber sehe ich mich als Kind.
Ich stehe zu Hause in der Verandatür, habe schwarzgelockte Haare und reiche nicht mal bis zur Türklinke. Ich halte mein Stofftier im Arm, einen braunen Hund. Er heißt Mopi. Auf dem offenen Holzgang kommen meine Eltern aus der Stadt. Die Mutter hat an ihrem roten Lacktäschchen die Kette um die Hand gewickelt, damit sie beim Treppensteigen nicht so rasselt. Der Vater trägt den weißen Strohhut in der Hand. Er geht ins Zimmer. Die Mutter bleibt stehen, streicht mir die Haare aus der Stirn und nimmt mir das Kuscheltier weg. Sie legt es auf den Verandatisch, am Lacktäschchen rasselt die Kette, und ich sage:
Gib mir den Mopi, sonst bin ich allein.
Sie lacht: Du hast doch mich.
Ich sage: Du kannst doch sterben, der Mopi nicht.
Aus dem leichten Schnarchen der Schwachen, die nicht mehr tanzen gehen, höre ich meine Kinderstimme. Sie ist so samtig, dass sie mich gruselt. KUSCHELTIER, was für ein Wort für einen Stoffhund, ausgestopft mit Sägemehl. Und jetzt im Lager nichts als KUSCHEN, oder wie nennt man das Schweigen aus Angst. Und KUSCHET heißt auf Russisch Essen. Jetzt will ich nicht auch noch ans Essen denken. Ich tauche in den Schlaf und ich träume.
Ich bin auf einem weißen Schwein durch den Himmel nach Hause geritten. Aus der Luft oben ist das Land gut zu erkennen, die Umrisse stimmen, sie sind sogar eingezäunt. Aber im Land stehen herrenlose Koffer herum und dazwischen grasen herrenlose Schafe. Um ihre Hälse hängen Tannenzapfen, die läuten aber wie Glöckchen. Ich sage:
Das ist ein großer Schafstall mit Koffern oder ein großer Bahnhof mit Schafen. Da wohnt doch niemand mehr, wo soll ich jetzt hin.
Der Hungerengel sieht mich aus dem Himmel an und sagt:
Reit zurück.
Ich sage: Dann sterbe ich doch.
Wenn du stirbst, mache ich alles orange, und es tut nicht weh, sagt er.
Und ich reite zurück, und er hält Wort. Während ich sterbe, ist der Himmel über allen Wachtürmen orange, und es tut nicht weh.
Dann wache ich auf
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