Atemschaukel
Oben, sehr hoch oben, der runde Mond. Vor unseren Gesichtern flog der Atem glitzrigweiß wie der Schnee unter den Füßen. Ringsherum die Maschinenpistolen im Anschlag. Und jetzt: Hosen runter.
Diese Peinlichkeit, das Schamgefühl der ganzen Welt. Wie gut, dass dieses Schneeland mit uns so allein war, dass niemand ihm zusah, wie es uns nötigte, dicht nebeneinander das Gleiche zu tun. Ich musste nicht aufs Klo, ließ aber dieHose herunter und setzte mich in die Hocke. Wie gemein und still dieses Nachtland war, wie es uns in der Notdurft blamierte. Wie die Trudi Pelikan links von mir ihren Glockenschnittmantel in die Achseln raffte und ihre Hose über die Knöchel herunterzog, wie man zwischen ihren Schuhen das Zischeln hörte. Wie hinter mir der Advokat Paul Gast beim Drücken stöhnte, wie seiner Frau Heidrun Gast das Gedärm vom Durchfall quakte. Wie der pestwarme Dampf rundherum sofort glitzrig in der Luft gefror. Wie uns dieses Schneeland eine Rosskur verpasste, uns mit blankem Hintern in den Geräuschen des Unterleibs einsam werden ließ. Wie armselig unsere Eingeweide wurden in dieser Gemeinsamkeit.
Vielleicht wurde in dieser Nacht nicht ich, aber der Schrecken in mir plötzlich erwachsen. Vielleicht wird Gemeinsamkeit nur auf diese Art wirklich. Denn alle, ausnahmslos alle setzten wir uns bei der Notdurft automatisch mit dem Gesicht in Richtung Bahndamm. Alle hatten wir den Mond im Rücken, die offene Viehwaggontür ließen wir nicht mehr aus den Augen, waren bereits auf sie angewiesen wie auf eine Zimmertür. Wir hatten schon die verrückte Angst, dass die Tür sich ohne uns schließt und der Zug ohne uns wegfährt.
Einer unter uns schrie in die weite Nacht: Da haben wirs, das scheißende Sachsenvolk, alle auf dem Haufen. Wenns den Bach runtergeht, geht nicht nur der Bach runter. Nicht wahr, ihr lebt doch alle gern. Er lachte leer wie Blech. Alle schoben sich ein Stück von ihm weg. Dann hatte er Platz und verneigte sich vor uns wie ein Schauspieler und wiederholte mit hohem und feierlichen Ton: Nicht wahr, ihr lebt doch alle gern.
In seiner Stimme hallte ein Echo. Einige fingen an zu weinen,die Luft stand glasig. Sein Gesicht war in den Wahn getaucht. Der Speichel auf seinem Jackett war glasiert. Da sah ich das Brustabzeichen, es war der Mann mit den Albatrosknöpfen. Er stand ganz allein und schluchzte mit einer Kinderstimme. Bei ihm geblieben war nur der versaute Schnee. Und hinter ihm die gefrorene Welt mit dem Mond wie ein Röntgenbild.
Die Lokomotive tutete einen einzigen dumpfen Ton. Das tiefste UUUH, das ich je gehört habe. Jeder drängte sich zu seiner Tür. Wir stiegen ein und fuhren weiter.
Den Mann hätte ich auch ohne Brustabzeichen erkannt. Ich habe ihn im Lager nie gesehen.
Meldekraut
Nichts, was wir hier im Lager bekommen hatten, hatte Knöpfe. Die Unterhemden, die langen Unterhosen hatten jeweils zwei Bändchen zum Verknoten. Das Kopfkissen hatte zweimal zwei Bändchen. In der Nacht war das Kopfkissen ein Kopfkissen. Am Tag war das Kopfkissen ein Leinwandsack, den man für alle Fälle, also fürs Stehlen und Betteln, bei sich trug.
Gestohlen haben wir vor, während und nach der Arbeit, nur nicht beim Betteln, das wir Hausieren nannten – und nicht vom Nachbar in der Baracke. Es war auch kein Stehlen, wenn wir nach der Arbeit auf dem Heimweg auf die Schutthalden ins Unkraut gingen und pflückten, bis das Kissen vollgestopft war. Schon im März hatten die Frauen vom Dorf herausgefunden, dass das Unkraut mit den gezackten Blättern LOBODǍ heißt. Dass man es im Frühjahr auch zu Hause gegessen hat wie wilden Spinat, dass es MELDEKRAUT heißt. Wir pflückten auch das Gras mit den gefiederten Blättern, es war wilder Dill. Voraussetzung war, dass man Salz hatte. Salz musste man sich auf dem Basar durch Tauschgeschäfte beschaffen. Es war grau und grob wie Schotter, man musste es noch klopfen. Salz war ein Vermögen wert. Wir hatten zwei Kochrezepte für das Meldekraut:
Die Meldekrautblätter kann man, gesalzen natürlich, roh essen, wie Feldsalat. Den wilden Dill fein zerrupfen und draufstreuen. Oder ganze Meldekrautstiele in Salzwasserkochen. Mit dem Löffel aus dem Wasser gefischt, ergeben sie einen berauschenden Falschen Spinat. Die Brühe trinkt man dazu, entweder als klare Suppe oder als grünen Tee.
Im Frühjahr ist das Meldekraut zart, die ganze Pflanze nur fingerhoch und silbergrün. Im Frühsommer ist sie kniehoch, ihre Blätter werden fingerig. Jedes Blatt kann anders
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