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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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freiwillig gezwungen vom Schnee. Das werde ich dem Schnee nie verzeihen, sagte sie. Frischgefallenen Schnee kann man nicht nachmachen, man kann Schnee nicht so arrangieren, dass er unberührt aussieht. Erde kann man arrangieren, sagte sie, auch Sand und sogar Gras, wenn man sich Mühe gibt. Und Wasser arrangiert sich von selbst, weil es alles schluckt und sich gleich wieder schließt, wenn es geschluckt hat. Und die Luft ist immer fertig arrangiert, weil man sie gar nicht sehen kann. Alles, außer dem Schnee hätte geschwiegen, sagte die Trudi Pelikan. Dass der dicke Schnee die Hauptschuld trägt. Dass er zwar in die Stadt gefallen ist, als wisse er, wo er ist, als wäre er bei sich zu Hause. Dass er aber den Russen sofort zu Diensten war. Wegen dem Schneeverrat bin ich hier, sagte die Trudi Pelikan.
    Der Zug fuhr 12 Tage oder 14, unzählige Stunden, ohne zu halten. Dann hielt er unzählige Stunden, ohne zu fahren. Wo wir grad waren, wussten wir nicht. Außer wenn einer auf den oberen Pritschen ein Bahnhofsschild durch den Schlitz des Klappfensterchens vorlesen konnte: BUZǍU. Der Kanonenofen in der Waggonmitte dubberte. Die Schnapsflaschen kreisten. Alle waren angesäuselt, einige vom Getränk, andere von der Ungewissheit. Oder von beidem.
    Was in den Worten VON DEN RUSSEN VERSCHLEPPT stecken könnte, ging einem zwar durch den Kopf, aber nicht aufs Gemüt. An die Wand stellen können sie uns erst, wenn wir ankommen, noch fahren wir. Dass man nicht längst an die Wand gestellt und erschossen worden war, wie man es aus der Nazipropaganda von zu Hause kannte, machte uns beinahe sorglos. Die Männer lernten imViehwaggon, ins Blaue zu trinken. Die Frauen lernten, ins Blaue zu singen:
    Im Walde blüht der Seidelbast
    Im Graben liegt noch Schnee
    Und das du mir geschrieben hast
    Das Brieflein, tut mir weh
    Immer dasselbe getragene Lied, bis man nicht mehr wusste, ob wirklich gesungen wird oder nicht, weil die Luft sang. Das Lied schwappte einem im Kopf und passte sich ans Fahren an – ein Viehwaggonblues und Kilometerlied der in Gang gesetzten Zeit. Es wurde das allerlängste Lied in meinem Leben, fünf Jahre lang haben die Frauen es gesungen und es so heimwehkrank gemacht wie wir alle waren.
    Die Waggontür war von außen plombiert. Viermal wurde sie geöffnet, eine Schiebetür auf Rollen. Wir waren noch auf rumänischem Gebiet, und es wurde zweimal eine halbe, der Länge nach durchgesägte, nackte Ziege in den Waggon geschmissen. Sie war starrgefroren und polterte auf den Boden. Die erste Ziege hielten wir für Brennholz. Wir brachen ihre Stücke auseinander und verfeuerten sie. Sie war so dürr, dass sie gar nicht stank, sie brannte gut. Bei der zweiten Ziege machte das Wort PASTRAMA die Runde, luftgetrocknetes Fleisch zum Essen. Wir haben auch unsere zweite Ziege verheizt und gelacht. Sie war genau so starr und blau wie die erste, ein Schreckensgeknöch. Wir lachten zu früh, waren so überheblich, die beiden rumänischen, mildtätigen Ziegen zu verschmähen.
    Die Vertrautheit wuchs mit der Länge der Zeit. In der Enge geschahen die kleinen Dinge, sich hinsetzen, aufstehen. Im Koffer wühlen, ausräumen, einräumen. Aufs Kloloch gehen hinter zwei hochgehaltene Decken. Jede Kleinigkeitzog eine andere nach sich. In einem Viehwaggon schrumpft jede Eigenart. Man ist mehr zwischen anderen vorhanden als bei sich selbst. Rücksichtnahme war gar nicht nötig. Man war füreinander da wie zu Hause. Vielleicht rede ich nur von mir, wenn ich das heute sage. Vielleicht nicht einmal von mir. Vielleicht zähmte mich die Enge im Viehwaggon, weil ich sowieso weg wollte und im Koffer noch genug zum Essen hatte. Wie sich der wilde Hunger bald über uns alle hermacht, ahnten wir nicht. Wie oft haben wir in den kommenden fünf Jahren, als uns der Hungerengel heimsuchte, diesen starren blauen Ziegen geglichen. Und ihnen nachgetrauert.
    Es war schon die russische Nacht, Rumänien lag hinter uns. Wir hatten bei einem stundenlangen Halt das starke Ruckeln gespürt. An den Waggonachsen wurden die Räder auf die breitere russische Schienenspur umgestellt, auf die Steppenbreite. So viel Schnee machte die Nacht draußen hell. In dieser Nacht auf dem leeren Feld war der dritte Halt. Die russischen Wachsoldaten schrien UBORNAJA. Alle Türen aller Waggons wurden geöffnet. Wir purzelten hintereinander ins tiefer gelegene Schneeland und sanken bis zu den Kniekehlen ein. Wir begriffen, ohne zu verstehen, Ubornaja heißt gemeinschaftlicher Klogang.

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