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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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aussehen, wie ein anderer Handschuh, ganz unten steht immer ein Daumen. Meldekraut so silbergrün, ist eine kühle Pflanze, ein Frühjahrsessen. Im Sommer musste man achtgeben, da wächst das Meldekraut rasch in die Höhe, wird dicht verzweigt, hartstielig und holzig. Es schmeckt bitter wie Lehmerde. Die Pflanze wird hüfthoch, um ihren dicken Mittelstiel bildet sich ein lockerer Strauch. Im Hochsommer färben sich Blätter und Stiele, fangen mit Rosa an, werden blut- und später blaurot und verdunkeln sich im Herbst bis ins tiefe Indigo. Alle Zweigspitzen kriegen Rispenketten aus Kügelchen wie bei den Brennesseln. Nur hängen die Rispen des Meldekrauts nicht, sie stehen schräg nach oben. Auch sie färben sich von Rosa zu Indigo.
    Es ist seltsam, wenn sich das Meldekraut zu färben beginnt und längst ungenießbar ist, wird es erst richtig schön. Dann bleibt es geschützt von seiner Schönheit am Wegrand stehen. Die Zeit des Meldekrautessens ist vorbei. Aber nicht der Hunger, der immer größer ist als man selbst.
    Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf derWelt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts anderes mehr denken kann. Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.
    Ich wusste nie, soll man dem bitteren Meldekraut vorwerfen, dass man es nicht mehr essen kann, weil es verholzt und sich verweigert. Weiß das Meldekraut, dass es nicht mehr uns und dem Hunger dient, sondern dem Hungerengel. Die roten Rispenketten sind ein Geschmeide um den Hals des Hungerengels. Ab Frühherbst, wenn der erste Frost kam, schmückte sich das Meldekraut jeden Tag stärker, bis es erfror. Giftschöne Farben waren das, die im Augapfel stachen. Die Rispen, unzählige Reihen aus roten Halsketten, jeder Wegrand schmückte den Hungerengel. Er trug seinen Schmuck. Und wir trugen einen so hohen Gaumen, dass sich beim Gehen das Echo der Schritte im Mund überschlug. Eine Durchsichtigkeit im Schädel, als hätte man zu viel grelles Licht geschluckt. So ein Licht, das sich im Mund selber anschaut, sich süßlich ins Gaumenzäpfchen schleicht, bis es anschwillt und einem ins Hirn steigt. Bis man im Kopf kein Hirn, nur das Hungerecho hat.
    Es gibt keine passenden Wörter fürs Hungerleiden. Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.
    Ich sah das Meldekraut, das man nicht mehr essen konnte, und versuchte, an etwas anderes zu denken. An die letzte müde Wärme des Spätsommers, bevor der Eiswinter kam. Stattdessen dachte ich dann aber an Kartoffeln, die es nicht gab. Und an die Frauen, die auf dem Kolchos wohnten und womöglich schon neue Kartoffeln in der täglichen Krautsuppe bekamen. Sonst beneidete man sie nicht. Sie wohnten in Erdlöchern und mussten jeden Tag viel länger arbeiten, von Lichtanfang bis Lichtende.
    Frühjahr im Lager, das hieß Meldekrautkochen für uns Meldegänger über die Schutthalden. Der Name MELDEKRAUT ist ein starkes Stück und besagt überhaupt nichts. MELDE war für uns ein Wort ohne Beiklang, ein Wort, das uns in Ruhe ließ. Es hieß ja nicht MELDE DICH, es war kein Appellkraut, sondern ein Wegrandwort. Auf jeden Fall war es ein Nachabendappellwort – ein Nachappellkraut, keinesfalls ein Appellkraut. Oft wartete man ungeduldig mit dem Meldekrautkochen, weil der Zählappell noch bevorstand und endlos dauerte, weil nichts stimmte.
    Es gab fünf RB – RABOTSCHI BATALION in unserem Lager, fünf Arbeitsbataillone. Jedes einzelne hieß ORB – Odelna Rabotschi Batalion und bestand aus 500 bis 800 Internierten. Mein Bataillon hatte die Nummer 1009, meine Arbeitsnummer war 756.
    Wir stellten uns auf in Reih und Glied – welch ein Ausdruck für diese fünf Elendsregimenter aus dicken Augen,

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