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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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großen Nasen, hohlen Wangen. Die Bäuche und Beine waren aufgepumpt mit dem dystrophischen Wasser. Ob Frost oder Gluthitze, ganze Abende vergingen im Stillgestanden. Nur die Läuse durften sich rühren an uns. Beim endlosen Durchzählen konnten sie sich vollsaufen undParadegänge absolvieren über unser elendiges Fleisch, uns stundenlang vom Kopf bis in die Schamhaare kriechen. Meist hatten sich die Läuse schon satt gesoffen und in die Steppnähte der Watteanzüge schlafen gelegt, und wir standen immer noch still. Der Lagerkommandant Schischtwanjonow schrie noch immer. Seinen Vornamen kannten wir nicht. Er hieß nur Towarischtsch Schischtwanjonow. Das war lang genug, um vor Angst zu stottern, wenn man es aussprach. Mir fiel beim Namen Towarischtsch Schischtwanjonow immer das Rauschen der Deportationslokomotive ein. Und die weiße Nische zu Hause in der Kirche, DER HIMMEL SETZT DIE ZEIT IN GANG. Vielleicht mussten wir gegen die weiße Nische stundenlang stillstehen. Die Knochen wurden sperrig wie Eisen. Wenn das Fleisch am Körper verschwunden ist, wird einem das Tragen der Knochen zur Last, es zieht dich in den Boden hinein.
    Ich übte beim Appell, mich beim Stillstehen zu vergessen und das Ein- und Ausatmen nicht voneinander zu trennen. Und die Augen hinaufzudrehen, ohne den Kopf zu heben. Und am Himmel eine Wolkenecke suchen, an die man seine Knochen hängen kann. Wenn ich mich vergessen und den himmlischen Haken gefunden hatte, hielt er mich fest.
    Oft gab es keine Wolke, nur einerlei Blau wie offenes Wasser.
    Oft gab es nur eine geschlossene Wolkendecke, einerlei Grau.
    Oft liefen die Wolken, und kein Haken hielt still.
    Oft brannte der Regen in den Augen und klebte mir die Kleider an die Haut.
    Oft zerbiss der Frost mir die Eingeweide.
    An solchen Tagen drehte mir der Himmel die Augäpfel hinauf, und der Appell zog sie hinunter – die Knochen hingen ohne Halt nur in mir allein.
    Der Kapo Tur Prikulitsch stelzte zwischen uns und dem Kommandanten Schischtwanjonow herum, in seinen Fingern verrutschten die Listen, verkrumpelt vom vielen Blättern. Jedesmal, wenn er eine Nummer rief, wackelte seine Brust wie bei einem Hahn. Er hatte immer noch Kinderhände. Meine Hände waren im Lager gewachsen, viereckig, hart und flach wie zwei Bretter.
    Wenn einer von uns nach dem Appell seinen ganzen Mut zusammennahm und einen der Natschalniks oder gar den Lagerkommandanten Schischtwanjonow fragte, wann wir nach Hause dürfen, sagten sie kurz: SKORO DOMOJ. Das hieß: Bald fahrt ihr.
    Dieses russische BALD stahl uns die längste Zeit der Welt.
    Beim Rasierer Oswald Enyeter ließ sich Tur Prikulitsch auch die Nasenhaare und die Fingernägel schneiden. Der Rasierer und Tur Prikulitsch waren Landsleute aus dem Dreiländereck der Karpato-Ukraine. Ich fragte, ob es im Dreiländereck üblich ist, dass man den besseren Kunden in der Rasierstube die Nägel schneidet. Der Rasierer sagte: Nein, so ist das nicht im Dreiländereck. Es kommt von Tur, nicht von zu Hause. Von zu Hause kommt der Fünfte nach dem Neunten. Was das heißt, fragte ich. Der Rasierer sagte: Ein bisschen Balamuk. Was das heißt, fragte ich. Er sagte: Ein bisschen Durcheinander.
    Tur Prikulitsch war kein Russe wie Schischtwanjonow. Er sprach deutsch und russisch, gehörte aber zu den Russen, nicht zu uns. Er war zwar ein Internierter, aber der Adjutant der Lagerleitung. Er teilte uns ein auf dem Papier inArbeitsbataillone und übersetzte die russischen Befehle. Und tat seine eigenen auf deutsch dazu. Auf dem Papier ordnete er zur Bataillonsnummer unsere Namen und Arbeitsnummern für die Gesamtübersicht. Jeder musste sich seine Nummern Tag und Nacht merken und wissen, dass wir Nummerierte, keine Privatleute sind.
    Tur Prikulitsch schrieb in die Rubriken neben unsere Namen Kolchos, Fabrik, Schutträumen, Sandtransport, Bahnstrecke, Baustelle, Kohletransport, Garage, Koksbatterie, Schlacke, Keller. Was neben dem Namen stand, davon hing alles ab. Ob wir müde, hundsmüde oder todmüde werden. Ob wir nach der Arbeit noch Zeit und Kraft haben zum Hausieren. Ob wir unbemerkt im Küchenabfall hinter der Kantine wühlen dürfen.
    Tur Prikulitsch geht nie auf Arbeit, in kein Bataillon, in keine Brigade, in keine Schicht. Er herrscht, darum ist er agil und abschätzig. Wenn er lächelt, ist es ein Hinterhalt. Wenn man sein Lächeln erwidert, was man ja muss, ist man blamiert. Er lächelt, weil er hinterm Namen in die Rubrik etwas Neues eingetragen hat, Schlimmeres. Zwischen

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