Atemschaukel
seiner Leica-Kamera vor uns auf dem Teppich, und die Mutter sagt: Lächelt euch mal an, es wird das letzte Bild, bevor sie stirbt. Meine Beine reichen nur knapp über den Stuhlrand. Aus dieser Position kannder Vater meine Schuhe nur von unten fotografieren, mit den Schuhsohlen nach vorn in Richtung Tür. Bei diesen kurzen Beinen bleibt dem Vater gar nichts anders übrig, auch wenn er das nicht will. Ich streife mir den Stuck von der Schulter. Die Großmutter umarmt mich und drückt mir den Stuck wieder an den Hals. Sie hält ihn fest mit ihrer durchsichtigen Hand. Die Mutter dirigiert den Vater mit einer Stricknadel, bis er umgekehrt zu zählen anfängt – drei, zwei, bei der Zahl eins knipst er. Danach steckt die Mutter sich die Stricknadel schräg durch den Dutt und nimmt uns den Stuck von den Schultern. Und Robert steigt damit auf seinen Stuhl und tut ihn oben an die Wand zurück.
Hast du ein Kind in Wien
Ich war schon seit Monaten mit den Füßen daheim, wo niemand wusste, was ich gesehen hatte. Und es fragte auch keiner. Erzählen kann man nur, wenn man wieder den abgibt, von dem man erzählt. Ich war froh, dass keiner etwas fragte, und insgeheim kränkte es mich. Der Großvater hätte mich bestimmt etwas gefragt. Er war seit zwei Jahren tot. Im Sommer nach meinem dritten Frieden war er an Nierenversagen gestorben und blieb bei den Toten, anders als ich.
An einem Abend kam der Nachbar, der Herr Carp, zu uns herüber und brachte die Wasserwaage zurück, die er geliehen hatte. Als er mich sah, musste er stottern. Ich bedankte mich für seine gelben Ledergamaschen und log, dass sie mich im Lager gewärmt hätten. Dass sie mir Glück gebracht hätten, sagte ich dann auch noch dazu, dass ich ihretwegen auf dem Basar einmal zehn Rubel gefunden hätte. Vor Aufregung glitten die Pupillen vom Herrn Carp wie Kirschkerne durch seine Augen. Er legte die Arme zusammen, streichelte sich beide Arme mit den Daumen, wippte und sagte: Dein Großvater hat immer auf dich gewartet. An seinem Todestag sind die Berge in die Wolken gegangen, es sind viele fremde Wolken wie fremde Koffer in die Stadt gekommen von überallher. Die Wolken haben gewusst, dass dein Großvater ein Weitgereister war. Eine Wolke war bestimmt von dir, auch wenn du es nicht weißt. Um fünf Uhr war das Begräbnis vorbei und gleich danachhat es eine halbe Stunde still geregnet. Ich weiß, es war ein Mittwoch, ich musste noch in die Stadt, Leim kaufen. Auf dem Heimweg habe ich vor eurem Hauseingang eine nackige Ratte gesehen. Sie war faltig, hat gezittert und sich an euer Holztor gekauert. Ich habe mich gewundert, dass sie keinen Schwanz hat oder darauf sitzt. Als ich vor ihr stand, sah ich eine warzige Kröte. Sie hat mich angeschaut und an ihren Backen zwei weiße Blasen aufgepumpt und grausig damit jongliert. Im ersten Moment habe ich sie mit dem Schirm wegschieben wollen, mich aber nicht getraut. Besser nicht, habe ich mir gedacht, es ist eine Erdkröte, sie winkt mit ihren weißen Blasen, das hat mit dem Tod von Leo zu tun. Man hat ja gedacht, dass du tot bist. Dein Großvater hat sehr auf dich gewartet, die erste Zeit. In der letzten Zeit dann weniger. Jeder hat ja geglaubt, dass du tot bist. Du hast ja nicht geschrieben, darum lebst du jetzt.
Das hat nichts miteinander zu tun, sagte ich.
Mein Atem bebte, weil der Herr Carp auf seinem ausgefransten Schnurrbart kaute und mich merken ließ, dass er es nicht glaubt. Die Mutter schielte durchs Verandafenster in den Hof, wo es nichts zu sehen gab als das bisschen Himmel und die Teerpappe auf dem Schuppen. Herr Carp, passen Sie auf, was sie reden, sagte die Großmutter. Das haben sie mir damals anders erzählt, damals hatten die weißen Blasen mit meinem toten Mann zu tun. Sie sind ein Gruß von meinem toten Mann, haben Sie damals gesagt. Der Herr Carp murmelte mehr zu sich selbst: Wie ich es jetzt sage, so ist es wahr. Ich konnte Ihnen, als Ihr Mann gestorben war, nicht auch noch mit dem toten Leo kommen. Der kleine Robert zog die Wasserwaage auf dem Boden und machte TSCH TSCH TSCH. Er setzte den Mopi aufs Dachseines Zugs, zog die Mutter am Kleid und sagte: Komm in den Zug, wir fahren auf die Wench. In der Wasserwaage zuckelte das abgleitende grüne Auge. Auf dem Zugdach oben saß der Mopi, im Waageninneren saß aber Bea Zakel und schaute durchs Fenster der Wasserwaage auf die Zehen vom Herrn Carp. Der Herr Carp hatte nichts Neues gesagt, nur das Ungehörige ausgesprochen. Ich wusste, dass der Schrecken
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