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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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vor Freiheit schwindlig. Mein Gemüt war sprunghaft, auf Absturz und hündische Angst dressiert, mein Hirn auf Unterwerfung angewiesen. Ich sah Bea Zakel im Fenster auf mich warten, bestimmt sah auch sie mich vorübergehen. Ich hätte grüßen sollen, wenigstens mit dem Kopf nicken oder winken mit der Hand. Es war mir zu spät eingefallen, wir waren jetzt zwei Häuser weiter.
    Als wir am Ende der Schulgasse um die Ecke bogen, hängte mein Onkel mich ein. Sicher spürte er, dass ich dicht neben ihm ganz woanders bin. Vermutlich hängte er gar nicht mich ein, sondern seinen alten Mantel, den ich trug. Seine Lunge pfiff. Mir schien, dass er, was er nach dem langen Schweigen sagte, gar nicht sagen wollte. Dass seine Lungenflügel ihn dazu gezwungen hatten, dass er deshalb zweistimmig sagte: Hoffentlich nehmen sie dich in der Fabrik. Mir scheint, bei euch ist die Mieselsucht im Haus. Er meinte den Nichtrührer.
    An der Stelle, wo die Pelzkappe an sein linkes Ohr stieß, liefen die Hautfalten seiner Ohrmuschel glatt auseinander wie an meinen Ohren. Ich musste auch sein rechtes Ohr anschauen. Ich machte mich los und wechselte auf seine rechte Seite. Noch mehr als das linke Ohr war auch das rechte mein Ohr. Der glatte Ohrenrand fing noch weiter unten an, er war länger und breiter, wie gebügelt.
    In der Kistenfabrik nahmen sie mich. Ich kam täglich aus dem Nichtrührer heraus und nach Feierabend wieder hinein. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, fragte die Großmutter:
    Bist du gekommen.
    Und ich sagte: Ich bin gekommen.
    Wenn ich das Haus verließ, fragte sie jedesmal:
    Gehst du weg.
    Und ich sagte: Ich gehe weg.
    Beim Fragen kam sie mir immer einen Schritt entgegen und griff sich ungläubig an die Stirn. Ihre Hände waren durchsichtig, nur Haut mit Adern und Knochen, zwei Seidenfächer. Ich wollte der Großmutter um den Hals fallen, wenn sie das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.
    Der kleine Robert hörte die täglichen Fragen. Wenn es ihm einfiel, machte er die Großmutter nach, kam mir einen Schritt entgegen, griff sich an die Stirn und fragte in einem Satz:
    Bist du gekommen, gehst du weg.
    Jedesmal, wenn er sich an die Stirn griff, sah ich die Speckfalten an seinen Handwurzeln. Jedesmal wollte ich dem Ersatzbruder den Hals zudrücken, wenn er das fragte. Der Nichtrührer hinderte mich.
    An einem Tag, als ich aus der Arbeit kam, sah ein Zipfel weißer Spitzenstoff unterm Deckel der Nähmaschine heraus. An einem anderen Tag hing an der Klinke der Küchentür ein Regenschirm, und auf dem Tisch lag ein zersprungener Teller, zwei gleiche Scherben wie in der Mitte durchgeschnitten. Und die Mutter hatte sich den Daumen mit einem Taschentuch verbunden. An einem Tag lagen Vaters Hosenträger auf dem Radio und Großmutters Brille in meinem Schuh. An einem anderen Tag war Roberts Stoffhund Mopi mit den Schnürsenkeln meiner Schuhe an den Griff der Teekanne gebunden. Und in meiner Mütze lag eine Brotkruste. Vielleicht streiften sie den Nichtrührerab, wenn ich von zu Hause weg war. Vielleicht lebten sie auf. Hier im Haus ging es zu wie mit dem Hungerengel im Lager. Es klärte sich nie, ob wir alle miteinander einen Nichtrührer haben oder jeder seinen eigenen.
    Wahrscheinlich lachten sie, wenn ich nicht da war. Wahrscheinlich bedauerten oder beschimpften sie mich. Wahrscheinlich küssten sie den kleinen Robert. Wahrscheinlich sagten sie, dass sie mit mir Geduld brauchen, weil sie mich lieben, oder dachten es nur still und gingen ihren Händen nach. Wahrscheinlich. Vielleicht hätte ich lachen sollen, wenn ich nach Hause kam. Vielleicht hätte ich sie bedauern oder beschimpfen sollen. Vielleicht hätte ich den kleinen Robert küssen sollen. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass ich mit ihnen Geduld brauche, weil ich sie liebe. Nur, wie sollte ich das sagen, wenn ich es mir nicht einmal im stillen denken konnte.
    Im ersten Monat nach der Heimkehr ließ ich die ganze Nacht im Zimmer das Licht brennen, weil ich mich ohne Dienstlicht fürchtete. Ich glaube, in der Nacht träumt man nur, wenn man vom Tag müde ist. Erst als ich in der Kistenfabrik arbeiten durfte, kam zum ersten Mal wieder ein Traum in meinen Schlaf.
    Großmutter und ich sitzen zusammen auf dem Plüschsessel, Robert auf einem Stuhl daneben. Ich bin klein wie Robert und Robert groß wie ich. Robert steigt auf seinen Stuhl, nimmt über der Uhr den Stuck von der Decke. Er legt ihn mir und der Großmutter um den Hals wie einen weißen Schal. Der Vater kniet mit

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