Atemschaukel
und das Mittelmeer. Nach fünfundzwanzig Jahren werden wir aus dem Osten über den Westen nach Hause kommen, falls es dann noch unser Zuhause ist, falls es nicht schon zu Russland gehört.
Oder die anderen Varianten: Dass wir überhaupt nicht von hier wegkommen, weil man uns so lange hierbehält, bis das Lager ein Dorf ohne Wachtürme ist und wir hier zwar noch immer keine Russen oder Ukrainer sind, aber Bewohner durch Gewöhnung. Oder dass wir so lange hierbleiben müssen, bis wir nicht mehr weg wollen, weil wir überzeugt sind, dass niemand mehr zu Hause auf uns wartet, weil dort längst andere wohnen, weil alle vertrieben sind, wer weiß wohin, und selber kein Zuhause haben. Eine andere Variante sagt, dass wir zuletzt hierbleiben wollen, weil wir nichts mehr anfangen können mit dem Zuhause und das Zuhause nichts mehr mit uns.
Wenn man von der Welt zu Hause ewig nichts hört, fragt man sich, ob man überhaupt nach Hause wollen und wasman sich dort wünschen soll. Im Lager wurde einem das Wünschen abgenommen. Man musste und wollte auch nichts entscheiden. Man wollte zwar nach Hause, beließ es aber bei der Erinnerung nach hinten, man traute sich nicht in die Sehnsucht nach vorn. Man glaubte, dass die Erinnerung schon Sehnsucht ist. Woher soll der Unterschied kommen, wenn sich im Kopf immer dasselbe dreht und die Welt einem so abhandengekommen ist, dass sie einem gar nicht fehlt.
Was wird zu Hause aus mir werden. Ich dachte mir, zwischen den Bergkämmen im Tal werde ich herumlaufen als Heimgekehrter, mir vorausgehen TSCH-TSCH-TSCH wie die Eisenbahn. Ich werde mir selbst in die Falle gehen, in die schrecklichste Vertrautheit werd ich fallen. Das ist meine Familie, werde ich sagen, und meinen werde ich damit die Lagerleute. Meine Mutter wird sagen, dass ich Bibliothekar werden soll, da ist man nie draußen in der Kälte. Und lesen wolltest du schon immer, wird sie sagen. Mein Großvater wird sagen, ich soll es mir überlegen und Handelsreisender werden. Denn reisen wolltest du schon immer, wird er sagen. Meine Mutter wird das vielleicht sagen, und mein Großvater wird das vielleicht sagen, aber wir waren hier in einem neuen vierten Frieden und ich wusste trotz des neuen Ersatzbruders gar nicht, ob sie noch leben. Hier im Lager waren Berufe wie Handelsreisender gut für das Kopfglück, man hatte etwas zu reden.
Einmal auf dem Schweigebrett im Keller habe ich mit dem Albert Gion darüber geredet und ihn sogar aus dem Schweigen gelockt. Vielleicht werde ich später einmal Handelsreisender, habe ich gesagt, mit allerhand Plunder im Koffer, mit Seidentüchern und Bleistiften, farbigen Kreiden,Salben und Fleckenwasser. Mein Großvater hat meiner Großmutter einmal eine Hawaii-Muschel mitgebracht, so groß wie ein Grammophontrichter und innen drin bläulicher Perlmutt. Vielleicht werde ich auch Baumeister, Blaupausen-Baumeister, habe ich auf dem Schweigebrett im Keller gesagt, Ozalidblaupausen-Baumeister. Dann habe ich mein eigenes Büro. Ich werde Häuser bauen für Leute mit Geld, eines wird ganz rund sein wie der Eisenkorb hier. Den Plan mache ich mir zuerst auf Butterbrotpapier. Im Zentrum eine Spindel vom Keller bis hinauf in die Kuppel. Alle Zimmer sollen Viertel- Sechstel- und Achtelkreise sein wie Tortenstücke. Das Butterbrotpapier wird in den Rahmen übers Ozalidpapier gelegt und der Rahmen dann fünf bis zehn Minuten zur Belichtung in die Sonne. Dann rollt man das Ozalidpapier in ein Rohr mit Salmiakdämpfen, nach kurzer Zeit kriecht der Plan schön heraus. Die Ozalidpause ist fertig, rosa, lila, zimtbraun.
Der Albert Gion hat sich das angehört und gesagt: Ozalidpause, hast du nicht Dämpfe genug, mir scheint, du bist übermüdet. Warum sind wir hier im Keller, wir haben keine Berufe. Die Berufe hier sind Friseur, Schuster und Schneider. Gute Berufe sind das, im Lager jedenfalls die besten. Aber man ist es von zu Hause, oder man wird es nie. Es sind Schicksalsberufe. Wenn man gewusst hätte, dass man eines Tages ins Lager kommt, wär man doch Friseur, Schuster oder Schneider geworden. Aber auf keinen Fall Handelsreisender oder Baumeister oder Blaumeister.
Der Albert Gion hatte recht. Ist Mörteltragen ein Beruf. Wenn man all die Jahre Mörtel trägt oder Schlackoblockziegel oder Kohle schaufelt oder Kartoffeln mit den Händen aus der Erde kratzt oder Keller putzt, weiß man, wiees geht, aber Beruf hat man keinen. Schwerstarbeit, aber keinen Beruf. Von uns wurde nur Arbeit verlangt, nie ein Beruf. Wir
Weitere Kostenlose Bücher