Atlan TH 0002 – Schergen der SOL
umstellte. Er wälzte sich herum. Für einen Moment fühlte er sich so jung und gesund wie niemals zuvor in seinem Leben.
Der alte Mann starrte auf die äußere Schleusentür. Er konnte nur den unteren Rand sehen, mehr nicht. Sein Körper war jetzt fast ganz erstarrt, bewegungsunfähig. Dann öffnete sich vor dem Buhrlo der Weg ins Freie.
Für die Buhrlos traf dieser Begriff wortwörtlich zu – dort draußen war die Freiheit, die größte nur denkbare Unbeschränktheit, derer ein Lebewesen sich erfreuen konnte. Da draußen war das Nichts.
Es gab einen winzigen Rest Atemluft in der Schleuse, und mit diesem Lufthauch wurde Kav Wergen aus der Schleuse hinausgeweht. Brave Tordya, sie hatte die Schwerkraft reduziert, um ihm den Ausstieg zu erleichtern.
Der Lufthauch reichte gerade aus, um ihn hinauszuziehen – hinein in die Weite des Raums. Sein Körper drehte sich ein wenig. Der schimmernde Leib der SOL tauchte vor den Augen des Buhrlos auf. Von außen sah das Schiff wunderschön aus. Die fehlende Atmosphäre schuf auf der Oberfläche des Hantelraumers ein hartes Spiel aus Licht und Schatten, aus Schwarz und Weiß. Es gab keine Übergänge, nur geometrisch exakte Strukturen.
Langsam entfernte sich der Körper des Buhrlos von seiner Heimat. Er würde die SOL niemals wieder betreten.
Um ihn herum war die Stille. Vielleicht war das der größte Unterschied zwischen Solanern und Buhrlos. Die Weltraummenschen waren fähig, stundenlang in absoluter Geräuschlosigkeit zu existieren – und dieses Gefühl zu genießen. Die Solaner brauchten dagegen Schutzanzüge, wenn sie in den Raum gingen. Das stetige Zischen des Sauerstoffs war für sie ein so wichtiger Klang, dass sie ohne dieses Geräusch wahnsinnig wurden.
Die Buhrlos dagegen liebten die Stille. Sie machte es möglich, tief in sich selbst hineinzuhören, sich auf das Schlagen des eigenen Herzens zu konzentrieren. Ein rhythmischer, gleichmäßiger Klang.
Immer weiter entfernte sich Kav Wergen von der SOL. Die Buhrlos hatten eine Art sechsten Sinn für feinste Veränderungen der Schwerkraft. Sie brauchten das, um den Kontakt zum Mutterschiff nicht zu verlieren. Es war dies das große Paradoxon, das die Existenz der Buhrlos ausmachte: für den Weltraum geboren und doch nicht gänzlich fähig zu sein, aus ihm und in ihm zu leben. Die Buhrlos konnten es ausschließlich an Bord der SOL nicht aushalten. Ohne wiederholte Aufenthalte im Raum wären sie gestorben. Sie waren aber auch nicht fähig, auf das Schiff zu verzichten.
So betrachtet stellten sie eine Zwitterform des Lebens dar – vielleicht nur den ersten in einer langen Reihe von Evolutionsschritten, die nötig waren, um eines Tages ein vollständiges Leben im Weltraum zu ermöglichen. Auf der anderen Seite mochte eine Weiterentwicklung in dieser Richtung einen so großen, so fundamentalen Unterschied zwischen Buhrlos und Menschen schaffen, dass man die Weltraumgeborenen irgendwann nicht mehr als Menschen bezeichnen würde.
Noch aber war es nicht so weit. Noch stellte die SOL den Mittelpunkt im Leben eines Buhrlos dar. Kav Wergen konnte bei der nächsten Umdrehung seines Körpers das Schiff wieder sehen. Fast glaubte er sogar, an der gigantischen Hülle die kleine, immer noch offene Schleuse zu erkennen, durch die er die SOL für immer verlassen hatte.
Wahrscheinlich war es eine Sinnestäuschung. Er konnte wegen der langsamen Drehbewegung, die sein steifer Körper vollführte, ohnehin nur etwa alle dreißig Sekunden einen Blick auf den Hantelraumer werfen. Die restliche Zeit sah er hinaus in die Weite des Weltalls. Es war, als sehe er in die Zukunft.
Konnte es die SOL schaffen, sich aus dem Zugstrahl zu befreien, der sie an ihrer weiteren Reise hinderte? Kav Wergen würde es nicht mehr erfahren, aber er war sich sicher, dass die SOL bald weiterfliegen würde. Ein grenzenloses Vertrauen hatte den Buhrlo ergriffen, seit er Atlan begegnet war – auch wenn er sich nicht zu erklären vermochte, woher dieses Gefühl kam.
Das Herz des Buhrlos schlug immer langsamer. Kav Wergen lächelte, als er langsam und sanft in die ihn umgebende Stille und den Frieden eintauchte, den alle Mächte des Universums nicht zu brechen imstande sein würden. Seine Lider flatterten, und er schloss zum letzten Mal die Augen. Wer hätte gedacht, dass der Tod so schön, so erlösend, so fröhlich und traurig zugleich sein würde?
Der Buhrlo hatte sein Ziel erreicht – er war eins geworden mit der Unendlichkeit.
ENDE
Atlan
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