Atlantis
mit einer Ausnahme: dem Lachkoller, den wir im Aufenthaltsraum bekommen hatten, als wir ihn durch Bennett’s Run hatten platschen sehen, und der erst abgeflaut war, als wir ihn, halb bewusstlos, in der Krankenstation abgeliefert hatten. Er hörte schweigend zu, als ich ihm von Skips Idee berichtete, Friedenszeichen auf unsere Bücher und Kleider zu malen, damit Stoke nicht allein im Regen stand. Selbst Ronnie Malenfant habe mitgemacht, sagte ich, und zwar ohne den geringsten Einwand. Wir erzählten es ihm, damit er seine Geschichte mit unserer abgleichen konnte; wir erzählten
es ihm auch, damit er begriff, dass er uns alle ebenso in Schwierigkeiten bringen würde wie sich selbst, wenn er die Schuld an dem Graffito (oder das Verdienst dafür) zu beanspruchen versuchte. Und wir machten ihm das klar, ohne es ihm direkt zu sagen . Das brauchten wir nicht. Seine Beine funktionierten nicht, aber mit dem Zeug zwischen seinen Ohren war alles in Ordnung.
»Finger weg von mir, Kirk.« Stoke rückte so weit von uns ab, wie es sein schmales Bett zuließ, und begann dann wieder zu husten. Ich weiß noch, dass ich bei seinem Anblick dachte, er hätte vielleicht noch vier Monate zu leben, aber in dem Punkt irrte ich mich; Atlantis versank, aber Stoke Jones schwimmt immer noch. Er arbeitet als Rechtsanwalt in San Francisco. Sein schwarzes Haar ist silbern geworden und schöner denn je. Er hat einen roten Rollstuhl. Auf CNN kommt er großartig rüber.
Skip lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich hatte ja nicht gerade mit übersprudelnder Dankbarkeit gerechnet, aber das ist zu viel«, sagte er. »Diesmal hast du dich selbst übertroffen, Ratz-Fatz.«
Seine Augen blitzten. »Nenn mich nicht so!«
»Dann nenn du uns nicht Diebe, nur weil wir versucht haben, deinen dürren Arsch zu retten. Zum Teufel, wir haben deinen dürren Arsch gerettet!«
»Niemand hat euch drum gebeten.«
»Nein«, sagte ich. »Du bittest überhaupt niemand um irgendwas, stimmt’s? Ich glaube, du wirst schon ziemlich bald größere Krücken brauchen, um die Wut mit dir rumzuschleppen, die du auf alles hast.«
»Diese Wut ist das Einzige, was ich habe, du Blödmann! Und was hast du?«
Eine Menge nachzuholen, das hatte ich. Aber das sagte ich Stoke nicht. Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass er vor Mitgefühl zerschmelzen würde. »An wie viel von dem, was an diesem Tag passiert ist, erinnerst du dich noch?«, fragte ich ihn.
»Ich weiß noch, dass ich FUCK JOHNSON ans Wohnheim gesprüht habe - das hatte ich schon seit ein paar Wochen geplant -, und ich weiß noch, dass ich in meinen Ein-Uhr-Kurs gegangen bin. Den hab ich größtenteils damit verbracht, mir zu überlegen, was ich im Büro des Dekans sagen würde, wenn er mich reinrief. Was für ein Statement ich abgeben würde. Danach verblasst alles, und meine Erinnerung besteht nur noch aus lauter kleinen Bruchstücken.« Er stieß ein sardonisches Lachen aus und verdrehte die Augen in ihren bläulichen Höhlen. Er lag schon fast eine ganze Woche im Bett und sah immer noch unaussprechlich müde aus. »Ich glaube, ich weiß noch, dass ich euch erklärt habe, ich wollte sterben. Hab ich das gesagt?«
Ich antwortete nicht. Er ließ mir alle Zeit der Welt, aber ich beharrte auf meinem Recht zu schweigen.
Schließlich zuckte Stoke die Achseln - die Art Achselzucken, die besagt, okay, lassen wir das. Dabei rutschte ihm das OP-Hemd, das er trug, von einer knochigen Schulter. Er zog es vorsichtig wieder zurecht - die Nadel eines Tropfs steckte in seiner Hand. »Ihr habt also das Friedenszeichen entdeckt, hm? Na toll. Ihr könnt damit zum Winterfest gehen und euch Neil Diamond oder die bescheuerte Petula Clark ansehen. Ich bin draußen. Für mich ist die Sache gelaufen.«
»Wenn du am anderen Ende des Landes aufs College gehst, glaubst du, du kannst die Krücken dann wegwerfen?
«, fragte Skip. »Und vielleicht Mittelstreckenläufer werden?«
Ich war ein bisschen schockiert, aber Stoke lächelte. Es war ein echtes Lächeln, sonnig und ungekünstelt. »Auf die Krücken kommt’s nicht an«, sagte er. »Die Zeit ist zu kurz, um sie zu verschwenden, darauf kommt’s an. Die Leute hier wissen nicht, was läuft, oder es ist ihnen egal. Das sind graue Leute. Wir-kommen-schon-irgendwie-durch-Leute. In Orono, Maine, gilt es ja schon als revolutionäre Tat, wenn man sich’ne Rolling-Stones-Scheibe kauft.«
»Einige wissen jetzt mehr als vorher«, sagte ich … aber mir machte der Gedanke an
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