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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verschwommenen Momenten des Tages wäre das schrille Piep-piep-piep des Weckers einfach zu viel für ihn. Es klingt wie ein zurücksetzendes Müllauto. Das Radio ist um diese Jahreszeit allerdings auch schon schlimm genug; der Dudelsender, den er eingestellt hat, leiert von früh bis spät Weihnachtslieder herunter, und an diesem Morgen hört er beim Aufwachen eins der zwei oder drei, die auf seiner Hassliste ganz oben stehen - lauter hauchige Stimmen und unechtes Staunen. Der Hare-Krishna-Chor, die Andy Williams Singers oder so was in der Art. Hörst du, was ich höre, singen die hauchigen Stimmen, als er sich verschlafen blinzelnd im Bett aufsetzt; die Haare stehen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab. Siehst du, was ich sehe, singen sie, als er die Beine über den Rand schwingt, dem Radio auf dem Weg über den kalten Fußboden eine Grimasse schneidet und es mit einem Schlag auf die Taste ausschaltet. Als er sich umdreht, hat Sharon ihre übliche Schutzhaltung eingenommen - Kissen über dem Kopf, unsichtbar bis auf die cremige Krümmung einer Schulter, den spitzenbesetzten Träger eines Nachthemds und eine blonde Locke.
    Er geht ins Badezimmer, schließt die Tür, zieht die Pyjamahose aus, in der er schläft, wirft sie in den Wäschekorb und schaltet seinen Elektrorasierer ein. Während er sich
damit übers Gesicht fährt, denkt er: Warum geht ihr nicht auch gleich den restlichen Katalog der Sinne durch, wenn ihr schon mal dabei seid, Jungs? Riechst du, was ich rieche, schmeckst du, was ich schmecke, fühlst du, was ich fühle - ich meine, he, nur zu!
    »Mumpitz«, sagt er, als er die Dusche aufdreht. »Alles Mumpitz.«
     
    Als er sich zwanzig Minuten später anzieht (den dunkelgrauen Paul-Stuart-Anzug, dazu seine Lieblingskrawatte von Sulka), wacht Sharon ein bisschen auf. Nicht so wach allerdings, dass er vollständig verstünde, was sie ihm erzählt.
    »Wie war das?«, fragt er. »Eierflip hab ich mitgekriegt, aber der Rest war bloß Ubbeldibubbel.«
    »Ich hab dich gefragt, ob du auf dem Rückweg zwei Liter Eierflip mitbringen könntest«, sagt sie. »Heute Abend kommen die Allens und die Dubrays rüber, weißt du noch?«
    »Weihnachten«, sagt er und überprüft im Spiegel sorgfältig, wie sein Haar sitzt. Er sieht nicht mehr wie der verwirrte Mann mit dem wilden Blick aus, der sich fünfmal, manchmal sogar sechsmal pro Woche morgens zum Klang von Musik im Bett aufsetzt. Jetzt sieht er so aus wie all die anderen Leute, die im Sieben-Uhr-vierzig-Zug mit ihm nach New York fahren, und genau das will er.
    »Was ist mit Weihnachten?«, fragt sie mit einem schläfrigen Lächeln. »Mumpitz, hab ich recht?«
    »Genau«, stimmt er zu.
    »Bring auch noch ein bisschen Zimt mit, wenn du dran denkst …«
    »Okay.«

    »… aber wenn du den Eierflip vergisst, erwürge ich dich, Bill.«
    »Ich werde dran denken.«
    »Ich weiß. Du bist sehr verlässlich. Und gut siehst du aus.«
    »Danke.«
    Sie lässt sich wieder zurücksinken, stützt sich dann jedoch auf einen Ellbogen, als er eine letzte winzige Korrektur am Sitz seiner Krawatte vornimmt, die dunkelblau ist. Er hat in seinem ganzen Leben noch keine rote Krawatte getragen, und er hofft, er wird ins Grab fahren, ohne von diesem speziellen Virus befallen worden zu sein. »Ich hab das Glitzerband besorgt, das du haben wolltest«, sagt sie.
    »Hmmm?«
    »Das Glitzerband «, sagt sie. »Es liegt auf dem Küchentisch.«
    »Oh.« Jetzt fällt es ihm wieder ein. »Danke.«
    »Gern geschehen.« Sie hat sich erneut hingelegt und driftet schon wieder in den Schlaf. Er beneidet sie nicht darum, dass sie bis neun im Bett bleiben kann - zum Teufel, bis elf, wenn sie will -, aber er beneidet sie um die Fähigkeit aufzuwachen, sich zu unterhalten und dann wieder wegzudämmern. Er hat diese Fähigkeit auch besessen, als er im Busch war - so wie die meisten Jungs dort -, aber seine Zeit im Busch - in country, wie die Neuen und die Kriegsberichterstatter immer sagten - liegt lange zurück; wenn man eine Weile da war, war es bloß noch der Busch, manchmal auch das Grüne.
    Im Grünen, ja.
    Sie sagt noch etwas, aber jetzt ist es wieder Ubbeldibubbel. Er weiß jedoch trotzdem, was es war: Ich wünsch dir einen guten Tag, Schatz.

    »Danke«, sagt er und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Wird schon klappen.«
    »Sehr gut siehst du aus«, murmelt sie wieder, obwohl ihre Augen geschlossen sind. »Ich lieb dich, Bill.«
    »Ich dich auch«, sagt er und geht hinaus.
     
    Sein Aktenkoffer - Mark

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