Atlantis
Cross, nicht das Allerbeste, aber fast - steht in der Diele, beim Garderobenständer, an dem sein Mantel hängt (von Tager’s auf der Madison). Er schnappt sich den Koffer im Vorbeigehen und nimmt ihn mit in die Küche. Der Kaffee ist fertig - Gott segne Mr. Coffee -, und er schenkt sich eine Tasse ein. Er öffnet den völlig leeren Aktenkoffer und nimmt das Glitzerbandknäuel auf dem Küchentisch in die Hand. Er hält es einen Moment in die Höhe und beobachtet, wie es im Neonlicht in der Küche funkelt, dann legt er es in den Koffer.
»Hörst du, was ich höre«, sagt er zu niemandem und klappt den Aktenkoffer zu.
8:15 Uhr
Draußen vor dem schmutzigen Fenster zu seiner Linken sieht er die Stadt heranrücken. Durch den Ruß auf der Scheibe sieht sie wie eine dreckige, urgewaltige Trümmerlandschaft aus - das tote Atlantis vielleicht, das soeben wieder an die Oberfläche gehoben worden ist, um zornig den grauen Himmel anzustarren. Der Tag hat eine Ladung Schnee im Rachen, aber das stört ihn nicht besonders; es sind nur noch acht Tage bis Weihnachten, und das Geschäft wird prima laufen.
Im Waggon stinkt es nach Morgenkaffee, Morgendeo, Morgenrasierwasser, Morgenparfüm und Morgenmägen. Fast alle Sitzplätze sind von Krawattenträgern besetzt - auch manche Frauen tragen heutzutage welche. Die Gesichter haben den verschwollenen Acht-Uhr-Look, die Blicke sind zugleich nach innen gekehrt und schutzlos, die Gespräche halbherzig. Das ist die Stunde, in der sogar Nichttrinker so aussehen, als hätten sie einen Kater. Die meisten Leute stecken die Nase in ihre Zeitungen. Warum auch nicht? Reagan ist König von Amerika, Aktien und Obligationen haben sich in Gold verwandelt, die Todesstrafe ist wieder en vogue . Das Leben ist schön.
Er selbst hat das Kreuzworträtsel in der Times aufgeschlagen, und obwohl er ein paar Felder ausgefüllt hat, ist es in erster Linie eine Art Schutzmaßnahme. Er redet im Zug nicht gern mit den Leuten, mag überhaupt keine lockeren Gespräche, und das Letzte auf der Welt, was er will, ist ein Freund unter den Pendlern. Wenn er anfängt, in einem Waggon immer dieselben Gesichter zu sehen, wenn die Leute ihm auf dem Weg zu ihren Plätzen zunicken oder sagen: »Wie geht’s Ihnen heute?«, wechselt er den Waggon. Es ist nicht so schwer, unbekannt zu bleiben, einer von vielen Pendlern aus den Vorstädten in Connecticut, ein Mann, der nur durch seine beharrliche Weigerung auffällt, eine rote Krawatte zu tragen. Vielleicht ist er mal auf eine Konfessionsschule gegangen, vielleicht hat er mal ein weinendes Mädchen festgehalten, während einer seiner Freunde sie mehrmals mit einem Baseballschläger geschlagen hat, und vielleicht hat er mal einige Zeit im Grünen verbracht. Niemand im Zug muss diese Dinge erfahren. Das ist das Gute an Zügen.
»Alles klar für Weihnachten?«, fragt ihn der Mann neben ihm auf dem Gangplatz.
Er blickt mit beinahe gerunzelter Stirn auf und gelangt dann zu dem Schluss, dass es keine ernst gemeinte Gesprächseröffnung ist, sondern nur eine hingeworfene leere Bemerkung, um die Zeit herumzubringen, wie manche Leute sie offenbar zwanghaft machen. Sein Sitznachbar ist fett und wird zweifellos gegen Mittag stinken, auch wenn er sich an diesem Morgen noch so sehr mit einem Deostift unter den Armen gerubbelt hat … aber er sieht Bill kaum an, also ist das in Ordnung.
»Ach, na ja, wissen Sie«, sagt er und senkt den Blick auf den Aktenkoffer zwischen seinen Schuhen - den Aktenkoffer, der nur ein Glitzerbandknäuel enthält, nichts weiter. »Ich komme so ganz allmählich in die richtige Stimmung.«
8:40 Uhr
Er verlässt Grand Central Station zusammen mit tausend anderen in Mäntel gehüllten Männern und Frauen, größtenteils mittlere Angestellte, gepflegte Wüstenspringmäuse, die um die Mittagszeit mit Volldampf in ihren Laufrädern rennen werden. Er bleibt einen Augenblick stehen und saugt die kalte graue Luft tief in die Lungen. Die Lexington Avenue ist mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt, und ein Stück entfernt bimmelt ein puertoricanisch aussehender Weihnachtsmann mit seiner Glocke. Er hat eine Spendenbüchse, neben der eine Staffelei steht. HELFT DEN OBDACHLOSEN ZU WEIHNACHTEN heißt es auf dem Schild auf der Staffelei, und der Mann mit der blauen Krawatte denkt: Wie
wär’s mit ein bisschen Wahrheit in der Werbung, du Weihnachtsmann? Wie wär’s mit einem Schild mit der Aufschrift HELFT MIR, ZU WEIHNACHTEN MEINER KOKAIN-SUCHT ZU FRÖNEN? Trotzdem wirft
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