Atlantis
dachte, es enthalte vielleicht eine Widmung. Es war auch eine drin, aber sie entsprach nicht dem, was ich erwartet hatte, ganz und gar nicht. In dem weißen Raum auf der Titelseite fand ich Folgendes:
Meine Augen füllten sich plötzlich und unerwartet mit Tränen. Ich hielt mir die Hände vor den Mund, damit das Schluchzen, das in mir aufstieg, nicht herauskam. Ich wollte Nate nicht aufwecken, wollte nicht, dass er mich weinen
sah. Aber ich weinte, o ja. Ich saß an meinem Schreibtisch und weinte um sie, um mich, um uns beide, uns alle. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben größeren Schmerz empfunden zu haben als in jenem Augenblick. Herzen halten einiges aus, hatte sie gesagt, Herzen brechen kaum je, und das ist bestimmt richtig … aber wie steht es mit damals? Wie steht es mit denen, die wir damals waren? Wie steht es mit Herzen in Atlantis?
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Wie auch immer, Skip und ich kamen durch. Wir holten unseren Stoff auf, bestanden die Abschlussprüfungen mit Mühe und Not und kehrten Mitte Januar in die Chamberlain Hall zurück. Skip erzählte mir, dass er John Winkin, dem Baseball-Coach, in den Ferien einen Brief geschrieben und ihm erklärt hatte, er habe seine Meinung geändert und wolle nun doch nicht ins Team.
Nate war wieder auf Chamberlain Zwei. Lennie Doria erstaunlicherweise auch - zur Probe, aber immerhin. Sein paisan Tony DeLucca war jedoch fort. Ebenso Mark St. Pierre, Barry Margeaux, Nick Prouty, Brad Witherspoon, Harvey Twiller, Randy Echolls … und Ronnie natürlich. Im März bekamen wir eine Karte von ihm. Sie war in Lewiston abgestempelt und einfach an »Die Knalltüten von Chamberlain Zwei« adressiert. Wir hängten sie im Aufenthaltsraum an die Wand, über den Stuhl, auf dem Ronnie bei den Spielen meistens gesessen hatte. Vorn drauf war Alfred E. Neuman, die Titelfigur der Zeitschrift Mad . Hinten drauf hatte Ronnie geschrieben: »Uncle Sam ruft, und ich muss hin. Ich
sehe Palmen in meiner Zukunft, aber wen kümmert’s einen Sch-dreck. Na und? Ich hatte am Schluss 21 Matchpunkte. Also bin ich der Sieger.« Unterschrieben war es mit »RON«. Skip und ich lachten uns eins. Für uns würde Mrs. Malenfants Sohn mit dem Schandmaul bis zum Tag seines Todes Ronnie bleiben.
Stoke Jones alias Ratz-Fatz war ebenfalls fort. Ich dachte eine Zeit lang nur selten an ihn, doch anderthalb Jahre später kamen sein Gesicht und die Erinnerung an ihn verblüffend lebhaft (wenn auch nur kurz) zurück. Ich saß zu der Zeit in Chicago im Knast. Keine Ahnung, wie viele von uns die Cops an dem Abend, als Hubert Humphrey zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten nominiert wurde, draußen vor dem Convention Center einsackten, aber es waren viele, und viele von uns waren verletzt - eine Sonderkommission würde die Geschehnisse ein Jahr später in ihrem Bericht als »Polizeikrawall« bezeichnen.
Ich landete in einer für fünfzehn, maximal zwanzig Gefangene vorgesehenen Arrestzelle - zusammen mit rund sechzig mit Tränengas besprühten, zusammengeschlagenen, zugedröhnten, verprügelten, übel zugerichteten, durch die Mangel gedrehten, misshandelten, über und über blutigen Hippies, von denen einige Joints rauchten, einige weinten, andere kotzten und wieder andere Protestlieder sangen (ganz weit hinten in der Ecke stimmte ein Typ, den ich nicht mal sah, eine bekiffte Version von »I’m Not Marchin’ Anymore« an). Es war wie eine befremdliche Strafversion des Spiels, bei dem sich so viele Personen wie möglich in eine Telefonzelle zwängen.
Ich wurde gegen das Gitter gepresst und versuchte, meine Hemdtasche (Pall Malls) und meine Gesäßtasche (das Exemplar
von Herr der Fliegen , das Carol mir geschenkt hatte - jetzt reichlich ramponiert, der halbe Umschlag fehlte, und es fiel fast auseinander) zu schützen, als ganz plötzlich Stokes Gesicht vor meinem geistigen Auge aufblitzte, so hell und vollständig wie ein hochauflösendes Foto. Es kam aus dem Nichts, wie es schien, vielleicht das Produkt eines schlummernden Speicherelements, das für einen kurzen Augenblick aktiviert worden war, entweder durch einen Gummiknüppelschlag auf den Kopf oder durch einen wiederbelebenden Hauch Tränengas. Und mit ihm kam eine Frage.
»Was zum Teufel hatte ein Krüppel im zweiten Stock zu suchen?«, fragte ich laut.
Ein kleiner Kerl mit einer wallenden Mähne goldener Haare - eine Art Peter-Frampton-Zwerg, falls so was vorstellbar ist - schaute sich um. Sein Gesicht war blass und picklig. Blut trocknete unter
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