Atlantis
ein Junge von St. Gabe’s; er hat das Kreuz und das Chorhemd getragen, war Ministrant, hat im Beichtstuhl gekniet und am Freitag den verhassten Schellfisch gegessen. In vielerlei Hinsicht ist er immer noch ein Junge von St. Gabe’s, das haben alle drei Versionen von ihm gemein, dieser Teil von ihm hat die Jahre überdauert und ist ihm geblieben. Nur dass er heutzutage Buße tut, statt die Beichte abzulegen, und die Gewissheit verloren hat, in den Himmel zu kommen. Heutzutage kann er nur noch hoffen.
Er hockt sich hin, öffnet den Koffer und dreht ihn um, sodass diejenigen, die von Norden kommen, den Aufkleber lesen können. Als Nächstes nimmt er den dritten Handschuh heraus, den Baseballhandschuh, den er seit Sommer 1960 besitzt. Er legt den Handschuh neben den Koffer.
Nichts bricht mehr Herzen als ein Blinder mit einem Baseballhandschuh, hat er festgestellt; Gott segne Amerika.
Zu guter Letzt nimmt er das Schild mit der tapferen Glitzerbandumrahmung heraus und steckt den Kopf unter der Kordel durch. Das Schild kommt vorn an seiner Feldjacke zu liegen.
WILLIAM J. GARFIELD, EHEMALIGER
1. LT. DER U.S. ARMY
DIENTE IN QUANG TRI, THUA THIEN,
TAM BOI, A SHAU
VERLOR 1970 MEIN AUGENLICHT IN DER
PROVINZ DONG HA
WURDE 1973 VON EINER DANKBAREN
REGIERUNG
JEDER FINANZIELLEN UNTERSTÜTZUNG BERAUBT
VERLOR 1975 MEIN ZUHAUSE
SCHÄME MICH ZU BETTELN
HABE ABER EINEN SOHN,
DER IN DIE SCHULE GEHT
DENKEN SIE BITTE NICHT SCHLECHT VON MIR
Er hebt den Kopf, sodass das weiße Licht dieses kalten Tages, der schon eine Ladung Schnee bereithält, über die blinden Rundungen seiner dunklen Gläser gleitet. Jetzt fängt die Arbeit an, und niemand wird je erfahren, wie hart diese Arbeit ist. Er muss auf eine bestimmte Weise dastehen, nicht ganz in jener militärischen Haltung, die man Rührt-euch-Haltung nennt, aber fast. Er muss den Kopf hochhalten, muss die Leute, die zu Tausenden und Zehntausenden in beiden Richtungen an ihm vorbeiziehen, ansehen und zugleich
durch sie hindurchschauen. Die Hände in den schwarzen Handschuhen müssen senkrecht herabhängen und dürfen nicht an dem Schild, dem Stoff der Hose oder aneinander herumfummeln. Er muss dauernd verletzten, gedemütigten Stolz ausstrahlen, darf sich aber auf keinen Fall Scham anmerken lassen oder gar die anderen Leute beschämen, und vor allem nicht den Eindruck erwecken, er könnte auch nur andeutungsweise verrückt sein. Er spricht nie, außer wenn er angesprochen wird, und auch dann nur, wenn es auf freundliche Weise geschieht. Er reagiert nicht auf Leute, die ihn ärgerlich fragen, warum er sich keine richtige Arbeit besorge, oder was er damit meine, er sei seiner Unterstützung beraubt worden. Er diskutiert nicht mit denen, die ihn beschuldigen, ein Simulant zu sein, oder ihre Verachtung über einen Sohn zum Ausdruck bringen, der seinen Vater an einer Straßenecke das Schulgeld zusammenbetteln lässt. Er erinnert sich, dass er diese eherne Regel nur ein einziges Mal gebrochen hat, an einem glühend heißen Sommernachmittag des Jahres 1981. Auf welche Schule geht Ihr Sohn?, hatte ihn eine Frau wütend gefragt. Er weiß nicht, wie sie ausgesehen hat, damals war es schon vier Uhr gewesen, und er war seit mindestens zwei Stunden so blind wie eine Fledermaus, aber er hatte gespürt, wie der Zorn in allen Richtungen aus ihr hervorbrach, wie Wanzen, die eine alte Matratze verließen. In gewisser Weise hatte sie ihn an Malenfant mit seiner schrillen Man-überhört-mich-nicht-Stimme erinnert. Sagen Sie mir, auf welche - ich will ihm einen Haufen Hundescheiße schicken. Sparen Sie sich die Mühe, hatte er erwidert und sich zu ihrer Stimme gedreht. Wenn Sie einen Haufen Hundescheiße haben und ihn irgendwohin schicken wollen, dann adressieren Sie ihn an
Lyndon B. Johnson. Federal Express muss in die Hölle liefern, die liefern auch überall anders hin.
»Gott segne Sie, Mann«, sagt ein Bursche mit einem Kaschmirmantel, und in seiner zitternden Stimme liegt überraschend viel Gefühl. Blind Willie Garfield ist jedoch nicht überrascht. Er hat schon alles gehört, glaubt er, und mehr als einmal. Verblüffend viele seiner Kunden legen ihr Geld sorgfältig und ehrfürchtig in die Tasche des Baseballhandschuhs. Der Bursche mit dem Kaschmirmantel wirft seine Spende jedoch in den offenen Koffer, wohin sie gehört. Ein Fünfer. Der Arbeitstag hat begonnen.
10:45 Uhr
So weit, so gut. Er legt behutsam den Stock hin, geht auf ein Knie und schüttet den Inhalt des Baseballhandschuhs in
Weitere Kostenlose Bücher