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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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den Koffer. Dann fährt er mit einer Hand durch die Scheine, obwohl er sie immer noch ziemlich gut sehen kann. Er sammelt sie auf - es sind insgesamt vier- oder fünfhundert Dollar, was bedeutet, dass dies ein Dreitausend-Dollar-Tag werden wird, nicht übermäßig gut für diese Jahreszeit, aber auch nicht schlecht -, rollt sie dann zusammen und wickelt ein Gummiband drum herum. Dann drückt er auf einen Knopf innen im Koffer, der falsche Boden klappt an Federn auf, und das Kleingeld fällt ganz nach unten in den Koffer. Er legt die Rolle Scheine ebenfalls in den Unterboden, alles ohne jede Heimlichkeit, aber auch ohne die geringsten Bedenken; in all den Jahren, in denen er das schon tut, hat ihn noch nie jemand beraubt. Gnade Gott dem Arschloch, das es jemals versucht.

    Er lässt den Knopf los, sodass der falsche Boden wieder hochklappt, und steht auf. Im selben Moment drückt sich eine Hand in sein Kreuz.
    »Frohe Weihnachten, Willie«, sagt der Besitzer der Hand. Blind Willie erkennt ihn am Geruch seines Rasierwassers.
    »Frohe Weihnachten, Officer Wheelock«, antwortet Willie. Sein Kopf bleibt in einer leicht fragenden Haltung nach oben gekehrt; die Hände hängen an den Seiten; die Füße in den auf Hochglanz polierten Stiefeln bleiben leicht gespreizt - nicht weit genug für die Rührt-euch-Haltung, aber auch nicht annähernd eng genug beieinander für die Habtachtstellung. »Wie geht es Ihnen heute, Sir?«
    »Prächtig, du Scheißkerl«, sagt Wheelock. »Du kennst mich doch, mir geht’s immer prächtig.«
    Ein Mann mit einem offenen Mantel über einem knallroten Skipullover kommt auf sie zu. Seine kurzen Haare sind oben schwarz und an den Schläfen grau. Sein Gesicht wirkt streng und wie gemeißelt, und Blind Willie erkennt diesen Ausdruck sofort. Er hat zwei Einkaufstüten dabei, eine von Saks, eine von Bally. Er bleibt stehen und liest den Text auf dem Schild.
    »Dong Ha?«, fragt er plötzlich, nicht wie jemand, der einen Ort benennt, sondern wie jemand, der auf einer belebten Straße einen alten Bekannten erkennt.
    »Ja, Sir«, sagt Blind Willie.
    »Wer war Ihr Befehlshaber?«
    »Captain Bob Brissum - mit u, nicht mit o -, und über ihm Colonel Andrew Shelf, Sir.«
    »Ich habe von Shelf gehört«, sagt der Mann mit dem offenen Mantel. Sein Gesicht hat sich auf einmal verändert.
Als er auf den Mann an der Ecke zugekommen ist, hat es ausgesehen, als gehörte es auf die Fifth Avenue. Jetzt nicht mehr. »Bin ihm aber nie begegnet.«
    »War gegen Ende meiner Dienstzeit. Wir haben keine höheren Offiziere zu sehen bekommen, Sir.«
    »Wenn Sie aus dem A-Shau-Tal rausgekommen sind, wundert mich das nicht. Da sind wir uns wohl einig, Soldat, oder?«
    »Ja, Sir. Vom Führungsstab war nicht mehr viel übrig, als wir nach Dong Ha reingegangen sind. Ich hab die Sache weitgehend zusammen mit einem anderen Lieutenant in die Hand genommen. Sein Name war Dieffenbaker.«
    Der Mann mit dem roten Skipullover nickt langsam. »Ihr Jungs wart dort, als die Helikopter runtergekommen sind, wenn ich das richtig sehe.«
    »Das ist korrekt, Sir.«
    »Dann müssen Sie später auch da gewesen sein, als …«
    Blind Willie hilft ihm nicht, den Satz zu beenden. Er riecht jedoch Wheelocks Kölnischwasser, stärker denn je, und der Kerl keucht ihm praktisch ins Ohr; er klingt wie ein aufgegeilter junger Bursche am Ende eines heißen Rendezvous. Wheelock hat ihm seine Nummer nie abgekauft, und obwohl Blind Willie für das Vorrecht bezahlt, an dieser Ecke in Ruhe gelassen zu werden - und zwar ein ganz hübsches Sümmchen, nach den aktuellen Tarifen -, weiß er, dass Wheelock zum Teil immer noch Cop genug ist, um zu hoffen, dass er Mist baut. Aber die Wheelocks dieser Welt verstehen nie, dass ein Schwindel nicht immer ein Schwindel ist, auch wenn es so aussieht. Manchmal liegen die Dinge ein bisschen komplizierter, als es auf den ersten Blick
scheint. Das war eine weitere Lehre aus Vietnam, damals in den Jahren, bevor es ein politischer Witz und eine Krücke für faule Drehbuchautoren wurde.
    »Neunundsechzig und siebzig waren die harten Jahre«, sagt der angegraute Mann. Er spricht mit langsamer, schwerer Stimme. »Ich war mit der dritten Kompanie vom hundertsiebenundachtzigsten am Hamburger Hill, daher weiß ich über A Shau und Tam Boi Bescheid. Erinnern Sie sich an die Route 922?«
    »O ja, Sir, Glory Road«, sagt Blind Willie. »Da hab ich zwei Freunde verloren.«
    »Glory Road«, wiederholt der Mann mit dem offenen Mantel, und auf

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