Atlantis
einmal sieht er aus, als wäre er tausend Jahre alt. Der knallrote Skipullover wirkt wie eine Obszönität, ein Ding, das irgendwelche kleinen Rabauken, die so was für komisch halten, einer Mumie im Museum übergehängt haben. Sein Blick geht in die Ferne, über hundert Horizonte hinweg. Dann kehrt er zu dieser Straße zurück, wo ein Glockenspiel in der Nähe jenes Lied spielt, in dem es heißt: I hear those sleighbells jingling, ring-ting-tingling too. Er stellt die Tüten zwischen seine teuren Schuhe und holt eine schweinslederne Brieftasche aus einer Innentasche seines Mantels. Er klappt sie auf und blättert ein fettes Bündel Geldscheine durch.
»Mit dem Sohn alles in Ordnung, Garfield?«, fragt er. »Bringt er gute Noten nach Hause?«
»Ja, Sir.«
»Wie alt?«
»Fünfzehn, Sir.«
»Staatliche Schule?«
»Konfessionsschule.«
»Ausgezeichnet. Und so Gott will, wird er die beschissene Glory Road nie zu Gesicht bekommen.« Der Mann mit dem offenen Mantel nimmt einen Schein aus seiner Brieftasche. Blind Willie spürt und hört, wie Wheelock leise nach Luft schnappt; er braucht den Schein kaum anzusehen, um zu wissen, dass es ein Hunderter ist.
»Ja, Sir, das ist richtig, so Gott will.«
Der Mann mit dem Mantel berührt Willies Hand mit dem Geldschein und macht ein überraschtes Gesicht, als die behandschuhte Hand zurückgezogen wird, als wäre sie nackt und von etwas Heißem berührt worden.
»Legen Sie’s in meinen Koffer oder in meinen Baseballhandschuh, Sir, wenn Sie so freundlich wären«, sagt Blind Willie.
Der Mann mit dem Mantel sieht ihn einen Moment lang mit hochgezogenen Augenbrauen und leicht gerunzelter Stirn an, dann scheint er zu verstehen. Er bückt sich, legt den Schein in die alte, geölte Tasche des Handschuhs, an dessen Seite mit blauer Tinte das Wort GARFIELD geschrieben steht, greift dann in seine Hosentasche und fördert eine kleine Handvoll Kleingeld zutage. Das verstreut er auf dem Gesicht des alten Ben Franklin, damit der Schein nicht wegfliegt. Dann steht er auf. Seine Augen sind nass und blutunterlaufen.
»Nutzt es Ihnen was, wenn ich Ihnen meine Karte gebe?«, fragt er Blind Willie. »Ich kann Sie mit mehreren Veteranenorganisationen in Kontakt bringen.«
»Danke, Sir, das könnten Sie bestimmt, aber ich muss mit allem Respekt ablehnen.«
»Die meisten schon ausprobiert?«
»Ein paar, ja, Sir.«
»In welchem VA-Krankenhaus waren Sie?«
»San Francisco, Sir.« Er zögert und fügt dann hinzu: »Im Pussy Palace, Sir.«
Der Mann mit dem Mantel lacht herzlich darüber, und als sein Gesicht sich in Falten legt, laufen ihm die Tränen, die ihm in den Augen gestanden haben, über die wettergegerbten Wangen. »Pussy Palace!«, ruft er. »Das hab ich seit zehn Jahren nicht mehr gehört! Eine Bettpfanne unter jedem Bett und eine nackte Schwester unter jeder Decke, stimmt’s? Nackt bis auf die langen bunten Halsketten, die haben sie anbehalten.«
»Ja, Sir, das trifft es so ziemlich, Sir.«
»Also dann, frohe Weihnachten, Soldat.« Der Mann mit dem Mantel salutiert knapp mit einem Finger.
»Ihnen auch frohe Weihnachten, Sir.«
Der Mann mit dem Mantel nimmt seine Tüten wieder auf und geht davon. Er schaut nicht zurück. Blind Willie hätte es ohnehin nicht gesehen; er sieht schon jetzt nur noch Geister und Schatten.
»Das war aber schön«, sagt Wheelock leise. Das Gefühl, wie Wheelock ihm seine verbrauchte Luft in die Ohrmuschel bläst, ist Willie zuwider - er findet es geradezu ekelhaft -, aber er wird dem Mann nicht die Freude machen, den Kopf auch nur einen Zentimeter zu bewegen. »Der alte Sack hat tatsächlich geweint . Na, das hast du ja sicher selbst gesehen. Aber du hast die Sprüche drauf, Willie, das muss ich dir lassen.«
Willie sagt nichts.
»Ein Krankenhaus der Veterans’ Administration namens Pussy Palace, hm?«, fragt Wheelock. »Klingt, als könnte ich mich da wohlfühlen. Wo hast du was drüber gelesen, im Soldier of Fortune -Magazin?«
Der Schatten einer Frau, ein dunkler Umriss an einem dunkler werdenden Tag, beugt sich über den offenen Koffer und wirft etwas hinein. Eine behandschuhte Hand berührt Willies behandschuhte Hand und drückt sie kurz. »Gott segne Sie, mein Freund«, sagt sie.
»Danke, Ma’am.«
Der Schatten entfernt sich. Die kurzen Atemzüge in Blind Willies Ohr entfernen sich nicht.
»Hast du was für mich, Kumpel?«, fragt Wheelock.
Blind Willie greift in seine Jackentasche. Er zieht den Umschlag hervor und streckt ihn
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