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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Nacht sind alle Katzen grau … und für die Blinden haben sie überhaupt keine Farbe. Ist es wirklich so ein großer Schritt von
Blind Willie Garfield zu Blind Willie Slocum? Ganz und gar nicht. Eigentlich ist es so leicht wie das Atmen.
    »Hörst du, was ich höre«, singt er leise, während er die Trittleiter zusammenklappt und wegstellt, »riechst du, was ich rieche, schmeckst du, was ich schmecke?«
    Fünf Minuten später macht er die Tür von Western States Land Analysts fest hinter sich zu und verriegelt sie dreifach. Dann geht er den Flur entlang. Als der Fahrstuhl kommt und er einsteigt, denkt er: Eierflip. Nicht vergessen. Die Allens und die Dubrays.
    »Und Zimt«, sagt er laut. Die drei Personen, die mit ihm zusammen im Fahrstuhl sind, schauen sich um, und Bill grinst verlegen.
    Draußen wendet er sich in Richtung Grand Central, und als der Schnee ihm ins Gesicht fliegt und er den Mantelkragen hochstellt, registriert er nur eins: Der Weihnachtsmann vor dem Gebäude hat seinen Bart jetzt korrekt umgebunden.

Mitternacht
    »Share?«
    »Hmmmm?«
    Ihre Stimme ist schläfrig, weit weg. Sie haben lange und langsam miteinander geschlafen, nachdem die Dubrays um elf endlich gegangen sind, und jetzt schlummert sie allmählich ein. Das ist in Ordnung; ihm geht es genauso. Er hat das Gefühl, dass sich all seine Probleme von selbst lösen oder dass Gott sie löst.
    »Vielleicht nehme ich mir nach Weihnachten mal eine Woche frei. Mache eine Bestandsaufnahme. Schnüffle an
ein paar neuen Stellen rum. Ich überlege, ob ich den Standort wechsle.« Es ist nicht nötig, dass sie etwas über Willie Slocums Pläne für die Woche vor Silvester erfährt; sie könnte doch nichts weiter tun, als sich Sorgen zu machen und - vielleicht, vielleicht auch nicht, er sieht keinen Grund, es genauer herauszufinden - sich schuldig zu fühlen.
    »Gut«, sagt sie. »Warum schaust du dir nicht ein paar Filme an, wenn du schon mal Zeit hast?« Ihre Hand kommt tastend aus dem Dunkeln und berührt kurz seinen Arm. »Du arbeitest so schwer.« Pause. »Und du hast an den Eierflip gedacht. Ich hatte wirklich nicht geglaubt, dass du das tun würdest. Ich bin sehr zufrieden mit dir, mein Schatz.«
    Daraufhin muss er im Dunkeln unwillkürlich grinsen. Das ist Sharon, wie sie leibt und lebt.
    »Die Allens sind in Ordnung, aber die Dubrays sind langweilig, stimmt’s?«, fragt sie.
    »Ein bisschen«, gibt er zu.
    »Wenn ihr Kleid noch tiefer ausgeschnitten gewesen wäre, hätte sie einen Job in einer Oben-ohne-Bar kriegen können.«
    Darauf sagt er nichts, grinst aber wieder.
    »Es war gut heute Abend, nicht?«, fragt sie ihn. Sie spricht nicht von ihrer kleinen Party.
    »Ja, hervorragend.«
    »Hattest du einen guten Tag? Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dich zu fragen.«
    »War ein prima Tag, Share.«
    »Ich liebe dich, Bill.«
    »Ich dich auch.«
    »Gute Nacht.«

    »Gute Nacht.«
    Während er allmählich in den Schlaf driftet, denkt er an den Mann mit dem knallroten Pullover. Er gleitet hinüber, ohne es zu merken, und seine Gedanken verschmelzen wie von selbst mit dem Traum. »Neunundsechzig und siebzig waren die harten Jahre«, sagt der Mann mit dem roten Pullover. »Ich war mit der dritten Kompanie vom hundertsiebenundachtzigsten am Hamburger Hill. Wir haben eine Menge gute Männer verloren.« Dann hellt seine Miene sich auf. »Aber ich habe das hier bekommen.« Er holt einen weißen Bart mit einer Schnur dran aus der linken Manteltasche. »Und das hier.« Aus der rechten Tasche holt er einen zerknautschten Styroporbecher und schüttelt ihn. Ein paar lose Münzen klappern darin wie Zähne. »Da sehen Sie’s«, sagt er und verblasst allmählich, »sogar für das blindeste Leben gibt es Entschädigungen.«
    Dann verblasst auch der Traum selbst, und Bill Shearman schläft tief und fest, bis ihn der Radiowecker am nächsten Morgen um Viertel nach sechs mit den Klängen von »The Little Drummer Boy« weckt.

WARUM WIR IN VIETNAM SIND
    1999
    Wenn jemand stirbt,
denkt man an die Vergangenheit.

     
    Wenn jemand stirbt, denkt man an die Vergangenheit. Sully hatte das wahrscheinlich seit Jahren gewusst, aber erst am Tag von Pags’ Beerdigung formte es sich bei ihm zu einem bewussten Postulat.
    Sechsundzwanzig Jahre waren vergangen, seit die Hubschrauber die letzte Ladung Flüchtlinge (einige fotogen an den Landekufen hängend) vom Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon abtransportiert hatten, und fast dreißig Jahre, seit ein Huey John

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