Atlas eines ängstlichen Mannes
Flachdach eines Rohbaus gespült wurde, wo er sich an einem Armierungseisen festhielt. Das Eisen durchschnitt ihm die Sehnen von Daumen und Zeigefinger und Mittelfinger. Aber dieser Rohbau und auch Demuthus Baum hielten dem Wasserdruck stand.
Zwei von Sameeras Brüdern entluden gerade ihr trockengefallenes Auslegerboot und arbeiteten wohl mit dem Rücken zum Meer, als die Wasserwand sie erreichte. Wären die beiden doch weit draußen, bei ihren Fanggründen, geblieben, weit draußen auf ihrem gelbschwarzen, mit dem Fellmuster eines Tigers bemalten Boot! Die Welle hätte sie hochgehoben, bloß gehoben, hätte sie einen Augenblick lang in der Schwebe gehalten und dann wieder unversehrt zurücksinken lassen in ein glattgewalztes Meer.
Demuthu war immer noch an den Schraubenbaum gebunden, stumm, von ihrem Entsetzen wie versteinert, als Sameera mit seiner blutenden Hand, die nichts halten und nichts greifen konnte, durch ein Chaos aus Trümmern zu der Stelle zurückkletterte und kroch, wo einmal sein Haus gewesen war.
War es am nächsten Tag?, ja, es war am nächsten Tag, während die Menschen begannen, in allem Schutt und Morast nach ihren Toten und Verschwundenen und den Resten zu graben, die sich in ein neues, trauriges Leben mitnehmen ließen, als Sameera und seine Frau beschlossen, zum
Sri Pada
zu gehen, dem heiligsten Berg des Landes. Menschen vier verschiedener Religionen erstiegen diesen Berg, um dankbar oder verzweifelt zu ihren Göttern zu beten, aber auch, wenn etwas geschehen war, das ihr Leben in seinen Fundamenten erschüttert hatte, und sie nach einem neuen Halt suchten, Rat suchten, Ruhe, vielleicht Trost.
Also hatten sie sich aus dem Chaos auf den Weg ins Hochland gemacht, in den Distrikt Ratnapura, aus dessen Urwäldern der Sri Pada als nackter Felskegel aufragte. Zweitausendzweihundertdreiundvierzig Meter über dem tödlichen Meer krönte ein Kloster den Gipfel, der in der Nacht erstiegen werden mußte, damit das Ende eines erschöpfenden Weges durch die Dunkelheit mit dem Aufgang der Sonne zusammenfiel. Ein Wanderer auf den Sri Pada sollte aus dem Dunkel, aus seinem Dunkel, ans Licht.
Buddhisten, Hindus, Moslems und Christen war dieser Berg heilig, und obwohl sie über ihn so viele verschiedene, oft widersprüchliche Legenden erzählten, wollte keiner den Sri Pada für sich und seinen Glauben allein:
Buddha, hieß es, habe auf dem Gipfel einen nun kostbar gefaßten Fußabdruck hinterlassen und auf dem Abstieg den Tau aus den Wolken mitgebracht, um das Leben der Menschen in der trockenen Jahreszeit zu lindern, glitzernden Tau, der sich schließlich in die blauen Saphire, Rubine und Mondsteine verwandelte, nach denen noch jetzt in den Minen bei Ratnapura geschürft wurde …
Gott Shiva, hieß es auch, habe auf dem Gipfel getanzt und tanzend nicht nur die geistige Blindheit und Unwissenheit zertreten, sondern damit die Voraussetzungen für ein neues Universum geschaffen …
Und der im indischen Madras in die Ewigkeit eingegangene Apostel Thomas sei unter dem Gipfel des Sri Pada gekniet und habe seinem dreifaltigen Gott dafür gedankt, daß ihm der Blick ins Tal ein Land offenbarte, das vom Garten Eden nicht zu unterscheiden war …
Sameera rupfte einige blaue Winden von den in der Feuchtigkeit schwarz gewordenen Fundamenten seines verschwundenen Hauses, während er von seiner und Demuthus Wallfahrt sprach, und hielt überrascht inne, glaubte an ein Zeichen des Schicksals und wollte mir später, bei unserem Abschied an der Mole von Mirissa, den Fahrpreis von vierhundert Rupien erlassen, als ich ihm sagte, daß ich erst vor drei Tagen vom Sri Pada an die Küste gekommen war und daß ich dort, wie er und seine Frau, vor Buddhas Fußabdruck auf dem Gipfel gestanden hatte – nicht als Pilger, aber als einer von vielen, die in einer gewittrigen Nacht dem Sonnenaufgang entgegengestiegen waren, stundenlang über in den Fels geschlagene und gemauerte Stiegen, so steil wie an Wände gelehnte Leitern. Und ich hatte von diesem Weg auch eine weitere der vielen Geschichten um diesen Berg mitgebracht, eine, die Sameera nicht kannte. Ich kam schließlich aus einer Welt, die den Sri Pada
Adam’s Peak
nannte und auf den meisten ihrer Karten nur unter diesem Namen führte:
Adam habe nach seiner Vertreibung aus dem Paradies den Sri Pada als ersten irdischen Ort betreten, habe den Berg also nicht aus dem Tal, sondern aus göttlichen Sphären, dem Himmel, bestiegen und sei am Gipfel, in seiner Trauer über
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