Atlas eines ängstlichen Mannes
diese Welt der Sterblichkeit und Vergänglichkeit, auf die Knie gesunken und habe tausend Jahre lang um das verlorene Paradies geweint … Alle Quellen, alle Sturzbäche und Katarakte, die vom Sri Pada herabrauschten, seien Adams Tränen.
Sosehr sich die Schauplätze von Sameeras und meinem Leben bis zu diesem Augenblick auch voneinander unterschieden hatten, so unvermittelt und ausgerechnet zwischen den Resten eines zerstörten Hauses teilten wir plötzlich die Erinnerung an einen Berg, der uns bei der ersten Annäherung als ein von Lichtspuren, Lichtadern durchzogener schwarzer Koloß erschienen war, der zu den Sternen zeigte.
Eine Elektrizitätsgesellschaft, sagte Sameera, habe die zahllosen Lichterketten und Lampen, die alle diese Stiegen und Plattformen des Weges aus den Wäldern bis zum Gipfel Nacht für Nacht erhellten, als Sühneopfer dargebracht: So sollten Götter und Dämonen wieder besänftigt werden, nachdem ein Tunnel des Staudamms, den diese Gesellschaft am Fuß des Berges, auf geheiligtem Land, gebaut hatte, eingestürzt und zum Grab für mehr als einhundertvierzig Menschen geworden war …
So viele Tempelchen und Schreine, so viele Andachtsstätten und Statuen so vieler Religionen und Hütten und Unterstände, in denen Tee für die Erschöpften in großen Kesseln dampfte, hatte Sameera, hatte ich auf dem Weg gesehen. Aber jede Hütte, jeder Unterstand mußte am Ende der Wallfahrtszeit wieder abgebaut werden, denn der Sri Pada gehörte nur für eine Hälfte des Jahres den Menschen. Die zweite gehörte allein den Göttern.
Ob ich auch die Höhle am Wasserfall kannte? fragte Sameera, eine Höhle, kaum größer als die Küche seines Hauses hier. Ein Eremit lebte dort seit vierzig Jahren.
Ja, ich hatte auch den Höhlenmenschen gesehen, einen kleinen alten Mann, der mich aufforderte, auf einer aus dem Fels geschlagenen Steinbank, die ihm als Nachtlager diente, Platz zu nehmen, und mir, schweißüberströmt, wie ich vom Aufstieg war, Wasser angeboten hatte. Ich hatte getrunken und ihn nach seinem Leben in dieser Höhle gefragt, nach den Gründen für seinen Entschluß, ein Leben unter den Felsen des Sri Pada zu verbringen, und konnte seine Antworten kaum ertragen: Der Atem des Eremiten roch faulig wie der eines Schwerkranken, und ich war mit der Beherrschung meines Ekels so beschäftigt, daß ich zunächst kaum etwas verstand von dem, was er sagte.
Als er sich dann an die Höhlenwand zurücklehnte und von der Liebe seiner Eltern sprach, von seiner Schwester, seinen Brüdern, begann er plötzlich zu weinen. Wie gerne hätte ich den Arm um ihn gelegt und ihn getröstet, aber ich konnte den Atemgestank nicht ertragen.
Nein, ihm fehle nichts in dieser Höhle, er habe hier nie etwas vermißt und habe als einzigen noch unerfüllten Wunsch nur die Hoffnung auf einen friedlichen Tod, sagte er, während er seine Brille abnahm und sich die Tränen von den Wangen wischte; er habe geweint, weil es seit so vielen Jahren das erste Mal gewesen sei, daß ihn jemand nach seiner Familie, seinem Leben gefragt hatte.
Er hat geweint? fragte Sameera, er hat ein Leben lang am Sri Pada gebetet, meditiert und sich zu befreien versucht von den Gewichten der Welt und mußte bei der Frage nach seiner Geschichte weinen?
Ich erzähle, was ich gesehen habe, sagte ich. Ich erzähle, was ich gehört habe.
Sameera hatte den Sri Pada zweimal bestiegen. Das zweite Mal vier Jahre nach dem Tsunami und ohne Demuthu. Auch vor dieser Reise ins Hochland war ein Bruder zu Tode gekommen: Harsha, der die Fischerei aufgegeben und sein Boot verkauft hatte und dann als Soldat im Distrikt Batticaloa von einer Mine der tamilischen Separatisten zerrissen worden war. Dabei habe er, wie er noch in der Woche davor an seine Familie schrieb, keinen einzigen Schuß auf die
Tamil Tigers
abgegeben, die über Jahrzehnte und am Ende vergeblich versuchten, ihren eigenen Staat auf dieser Insel der Singhalesen zu errichten, und mit denen jetzt endlich Frieden geschlossen worden war.
Seltsam, sagte Sameera, daß er bei seinem zweiten Weg in die Höhe weder an den von einer Mine getöteten Bruder noch an die in einer Wasserwand Verschwundenen seiner Familie denken konnte, sondern nur Schritt für Schritt seinen ersten Weg zum Fußabdruck Buddhas mit diesem zweiten Aufstieg verglich:
Beim erstenmal waren nur wenige andere Pilger auf dem Weg gewesen, weil die große Wallfahrtszeit ja erst mit dem Vollmond im Dezember begann. Aber jetzt schwankte und drängte
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