Atlas eines ängstlichen Mannes
losließen:
Mehr als eintausend Wartende habe die große Welle damals allein auf dem strandnahen Busbahnhof von Galle getötet und mehr als vierzigtausend Menschen an den Küsten des ganzen Landes. Unter den Toten waren auch eine seiner Schwestern, die Mutter seiner Frau und zwei seiner Brüder, die, wie so viele andere Opfer, spurlos in der Flut verschwunden waren. Sampath, den älteren der beiden Brüder, habe er noch zwischen entwurzelten Kokospalmen, Fässern und Bruchholz in unerreichbarer Ferne schwimmen sehen. Sampath mußte dann aber, vielleicht bereits ertrunken oder vom dahinwirbelnden Treibgut erschlagen, vielleicht aber immer noch kämpfend und in den rauschenden Strudeln nach Halt suchend, vom Sog der ins Meer zurückströmenden Flut hinausgetragen worden sein und hinabgezogen in die Tiefe.
Sameera war wie seine Geschwister am Strand aufgewachsen, hatte den Ozean aber immer gefürchtet. Daß er als einziger von insgesamt fünf Brüdern kein Fischer werden mußte, verdankte er allein der Seekrankheit, die ihn für die schwere Arbeit auf den schmalen Auslegerbooten untauglich machte. Schon die Dünung bei Windstille ließ ihn bis zum Ersticken erbrechen.
Hier, das hier war das Schlafzimmer. Und hier die Küche. Und hier der Raum, in dem gegessen wurde und in dem auch die kleine, von einem blinkenden Lichterkranz umgebene Buddhastatue gestanden hatte, vor der er Morgen für Morgen, vor jeder ersten Ausfahrt mit dem Tuk Tuk, betete.
Nein, das mit Plastikblumen und farbigen Lämpchen geschmückte Gefährt, das ihm erlaubte, seine drei Söhne, seine Frau und seine Eltern zu ernähren, gehörte ihm nicht. Viele Fahrer mußten sich ihre Tuk Tuks von Geschäftsleuten mieten, weil sie seit der Flut weder Geld noch Sicherheiten für einen Kredit hatten, um ihr ins Meer geschwemmtes oder zerschmettertes Fahrzeug durch ein neues zu ersetzen.
Und auch ein Haus wie jenes, dessen Fundamente unter diesem blühenden Grün allmählich verschwanden, würde Sameera kein zweites Mal bauen können, sondern noch jahrelang angewiesen bleiben auf eine fensterlose, mit Wellblech gedeckte Baracke ohne fließendes Wasser am dröhnenden Rand der Straße nach Matara, in der er seit dem Jahr der Flut zur Miete wohnte. Erst mußten die Söhne groß werden und einen einträglicheren Beruf als den eines Fischers erlernen, bevor an ein Haus oder an ein eigenes Fahrzeug auch nur zu denken war. Eine Schwägerin, sagte Sameera, habe ihm ja ein leerstehendes Haus am Flußufer angeboten, ein schönes Haus dicht an der Mündung des Flusses. Aber allein die Vorstellung, daß eines seiner Kinder beim Spielen an den schlammigen Ufern ertrinken könnte, die Vorstellung, daß noch einer seiner Liebsten ertrinken könnte, habe ihm einen Umzug verboten.
Demuthu, Sameeras Frau, war mit ihrem ersten Sohn schwanger gewesen, als damals wie zur Warnung, die allerdings niemand verstand, ein Brecher über den Strand gerauscht war, der den Garten und die Fußböden knietief überschwemmte. Dann hatte sich das Wasser zurückgezogen, weiter und weiter, so weit wie bei keiner Ebbe und niemals zuvor … Niemand an den Stränden zwischen Galle und Matara konnte sich an ein solches Verschwinden, ein solches Versickern des Ozeans erinnern. Der Meeresgrund lag plötzlich unter freiem Himmel! Fische, große Fische, denen das Wasser davongelaufen war, lagen flossenschlagend im Schlick und im Sand und wurden aufgesammelt. Kinder trieben Bälle und Reifen über dieses glänzende, weiche, nie gesehene Land, als Sameera am Horizont etwas Dunkles auftauchen sah, etwas wie eine aus dem Meer steigende Küste, nein: etwas wie ein dunkles Wolkenband … Das war die zweite, die alles vernichtende, turmhohe Wasserwand gewesen, die mit sechshundert Stundenkilometern auf das Land zuraste. Für die Spielenden weit draußen und die Fischsammler mußte jeder Warnschrei zu spät kommen, aber Sameera hatte seiner Frau und den Nachbarn und auch denen, die er in der Ferne sah und die schon verloren waren, immer nur
Lauf! Lauft!
zugeschrien, so laut, daß es im Hals und im Brustkorb schmerzte.
Demuthu war gerade damit beschäftigt, Wäsche aufzuhängen, und versuchte erst gar nicht mehr davonzulaufen, sondern kletterte auf den großen Schraubenbaum hinter dem Schuppen, als sie sah, wie die Wasserwand durch den Kokoshain am Strand brach. Hoch oben, so hoch es mit dem Kind in ihrem Bauch ging, band sie sich dort mit einem Tuch fest, während Sameera fortgerissen, dann aber an das
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