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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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riesigen Engel mit ihren gefalteten Goldschwingen über dem Hauptportal, der an Packeis erinnernde weiße Marmor der Fassaden und die mit Blattgold beschichtete, in der Abendsonne leuchtende Kirchenkuppel hatten in den betenden Frauen und Männern vielleicht eine Ahnung wachgerufen vom Glanz jenes Himmels, zu dem ihre Bitten und Anrufungen durch ein Sieb aus Gitterstäben emporsteigen sollten.
    Bleibe bei uns,
    denn es will Abend werden,
    und der Tag hat sich geneiget.
    Eine Fibel, die ich auf dem Weg in die Anstalt Am Steinhof an einem Kiosk gekauft hatte, pries dieses mit Gold wie beschneite Bauwerk, zu dem ich auf ornamental geschwungenen Kieswegen und Treppen hochgestiegen war, als bedeutendsten und größten Sakralbau des Jugendstils: In den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als krönendes Schlußstück auf die höchste Erhebung des Anstaltsgeländes gesetzt, überglänzte die Kirche nicht nur einen ummauerten Komplex aus sechzig Gebäuden, Patientenpavillons, Verwaltungs- und Wirtschaftsbauten, sondern auch die zum Himmel zeigenden Türme der Stadt in der Tiefe. Einhunderttausend Bäume, Föhren, Kastanien, Eiben, Platanen, Tannen, die in den Baujahren auf dem Anstaltsgelände gepflanzt worden waren, beschatteten mittlerweile selbst die größten Pavillons und entsprachen an diesem frühherbstlichen Abend einmal mehr den Absichten des Planers: Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel.
    Aber dieser Planer, las ich auf einer Parkbank vor dem Kirchenportal in meiner Fibel, Otto Wagner, der große Architekt des Jugendstils, sei am Wiener Kaiserhof trotz seiner Weitsicht, mit der er sein Werk in einen Wald aus Laub- und Nadelbäumen eingebettet hatte, in Ungnade gefallen – war diesem Hof doch alles, was nicht den Normen entsprach, alles, was neu war, anders war, verrückt war, verhaßt. Ein Thronfolger, der wenige Jahre später in Sarajevo unter den Kugeln eines Attentäters sterben sollte, hatte in seiner Festrede zur Eröffnung der größten
Irrenanstalt
der damaligen Welt den Namen des Architekten mit keinem Wort erwähnt und den Festakt nach der Begehung der Kirche empört verlassen.
    Namen! Wie viele Namen waren in den Pavillons und in unzähligen Krankengeschichten seit der Rede des Thronfolgers vergessen oder verschwiegen worden: In zweitausendsiebenhundert, dann dreitausend, schließlich viertausendachthundert Anstaltsbetten hätten Verzweiflung und so viele andere Leiden der Seele wenn nicht geheilt, so doch wenigstens gelindert werden sollen, als nach dem Ausbruch des Hakenkreuzwahns die Mehrzahl aller Insassen aus den Pavillons als
lebensunwert
in Vernichtungsanstalten verschleppt und dort in Gaskammern, mit Giftinjektionen oder im Verlauf medizinischer Experimente umgebracht wurde. Und wie lange waren innerhalb und außerhalb der Anstaltsmauern auch Tatsachen wie jene verschwiegen worden, daß ein Arzt, der hier qualvolle, tödliche Versuche an Hunderten Kindern durchgeführt hatte, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Wahns als Gerichtsgutachter und Kinderarzt in der grauen Stadt in der grauen Tiefe praktizieren durfte.
    Maria, Spiegel der Gerechtigkeit,
    Widerschein der Gnade,
    bitte für uns.
    Als ich auf meiner Parkbank am Gitterportal der Anstaltskirche die Gebete und Litaneien hörte, war das Schweigen auch über diesen Arzt und seine Zeit zwar bereits gebrochen – von den jährlich etwa fünfeinhalbtausend
Einweisungen
, die Menschen aus ihren Wohnungen und aus ihrem Leben in die Pavillons am Steinhof versetzten, erfolgten damals, es waren die frühen achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, aber noch immer fast fünftausend unter Zwang. Dabei hatte in jenem milden Herbst auch auf den Steinhofgründen bereits ein frischer Wind eingesetzt, der vom Mittelmeer kam und von einem in Venedig geborenen und in Triest wirkenden Psychiater namens Franco Basaglia entfacht worden war, als er die Öffnung der Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit und dann sogar die Abschaffung aller geschlossenen Anstalten gefordert und in vielen der immer noch als
Irrenanstalten
geführten psychiatrischen Krankenhäusern Westeuropas Gehör gefunden hatte.
    Natürlich waren am Steinhof auch nach den Forderungen und Vorschlägen aus Triest die Türen nicht einfach aufgesprungen, sondern wurden, wie die Gittertore der Kirche, vor der ich saß, nur an Sonntagen und zu besonderen Anlässen geöffnet, aber als ersten Schritt über alte Grenzen hinweg sollten Menschen, die diesseits und jenseits der

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