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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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einzigen Vogelstimme durchbrochene Stille und tanzten und taumelten im leichtesten Windhauch dahin und dorthin – bis zu jenem Augenblick, in dem der Kommandant aller Leichtigkeit, der spindeldürre – aber wer weiß, vielleicht doch über die Kräfte eines Riesen verfügende – Mann mich als Fremden erkannte und, ohne noch einmal in seine Trillerpfeife zu stoßen, auf mich zukam.

Kalligraphen
    Ich sah flache Steininseln im spiegelglatten Wasser des Kunming-Sees im Nordwesten von Peking. Sie lagen wie schwimmende Tafeln so nahe am Ufer und dicht nebeneinander, daß ein Spaziergänger sie ohne Mühe erreichen konnte. Auf der größten von ihnen saß ein Mann in der Frühlingssonne. Neben sich eine weiße Leinentasche und einen Bambusstock, an dessen Spitze eine Knolle, ein Meeresschwamm, befestigt war, hielt er ein Buch in der Art eines Weitsichtigen am nahezu ausgestreckten Arm. Wenn er das Buch sinken ließ und über die Wasserfläche hinweg zu den am fernen jenseitigen Ufer schimmernden Türmen und Pavillons des Sommerpalastes der Kaiser von China sah, blätterte manchmal eine sanfte Brise die Seiten auf. Ließ er seinen Blick dann wieder sinken, war es, als folgte er bloß einem Vorschlag des Windes, wenn er dort weiterlas, wo der Fächer der Seiten gerade stillstand.
    Als er sein Buch beiseite legte und der Leinentasche ein mit Tee gefülltes Marmeladen- oder Gurkenglas und dazu einen Becher entnahm, näherten sich zwei Männer, die ihm schon von weitem einen Gruß zuriefen. Auch diese beiden trugen Bambusstöcke und hatten Teegläser mitgebracht, aber keine Bücher, sondern nur eine Sammlung von Zetteln, die sie aus den Brusttaschen ihrer Jacken zogen. Sie besetzten zwei weitere Inseln, tranken Tee, entfalteten ihre Zettel und plauderten über die schmalen Wasserstraßen des Miniaturarchipels hinweg, bis sie plötzlich und wie auf ein geheimes Zeichen, das alle Müßiggänger am See zu ernsthafter Tätigkeit rief, ihre Teegläser zuschraubten und sich erhoben. Dann tauchten sie ihre Bambusstöcke ins Wasser und begannen, ihre Inseln mit den vollgesogenen Schwämmen zu beschreiben. Auf dem glatten, sonnenbeschienenen Steingrund erschienen ihre kunstvollen Schriftzeichen wie mit Tusche gepinselt.
    Was diese Kalligraphen von ihren Zetteln und aus dem Buch auf den Stein übertrugen, war ihnen offensichtlich so vertraut, daß sie nur gelegentliche flüchtige Blicke auf ihre Vorlagen warfen. Aber mit welcher Eleganz und Sicherheit sie ihre Wasserzeichen auch malten – die Schrift verblaßte rasch unter der Sonne, verdampfte. Manchmal war, wenn ein Schreiber ans Ende einer Zeichenfolge gekommen war, ihr Anfang schon wieder verflogen und die leergetrocknete Tafel frei für die Fortsetzung. Manchmal hielt ein Schreiber auch inne, um das Werk seines Nachbarn mit einem kurzen prüfenden Blick zu begutachten und ein knappes Urteil zu fällen oder einfach um das Schauspiel des Verschwindens der eigenen und der fremden Schrift zu verfolgen.
    Als eine langgezogene Wolkenbank die Sonne für fünfzehn, zwanzig Minuten verbarg, verlangsamte sich das Tempo dieses Verschwindens so sehr, daß die Schreiber auf der Suche nach leeren Flächen von Insel zu Insel schritten – und sich schließlich doch trennten. Es waren die beiden Zettelträger, die sich verabschiedeten und am Ufer in Richtung jenes marmornen Pavillons davonschlenderten, den die Kaiserinwitwe Tse Hsi, die China fast fünfzig Jahre lang beherrscht hatte, in der Form eines Raddampfers in den See hatte setzen lassen, um vorzuführen, daß ein kaiserliches Schiff selbst dann nicht sank, wenn es aus Stein war.
    Der auf den Inseln zurückbleibende Mann legte seinen Bambusstock nach dem Aufbruch der beiden anderen zur Seite, nahm sein Buch wieder zur Hand und las, bis die Wolkenbank die Sonne wieder freigab und Zeichen um Zeichen erlosch. Ich hatte schon befürchtet, eine Gelegenheit versäumt zu haben, trat aber nun, als der Kalligraph seine Arbeit wieder aufnahm, ans Ufer und bat ihn mit den ebenso unmißverständlichen wie unbeholfenen Gesten eines Touristen um Erlaubnis, ihn und seine verfliegenden Zeichen mit der Kamera festhalten zu dürfen. Er antwortete auf englisch und bot mir Tee und einen Platz auf einer leeren Insel neben der seinen an. Während er nach meiner Herkunft und dem Zweck meiner Reise fragte, verflog seine Schrift. Ich antwortete, fotografierte, fragte zurück.
    Er war Techniker in einem Wasserkraftwerk am Oberlauf des Yangtsekiang gewesen

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