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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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und taumelte er in einem Strom Tausender Menschen empor. Und er machte mit ihnen halt, wo sie haltmachten, opferte, betete, wo sie opferten und beteten: An der dämmrigen Grotte des großen liegenden Buddha … vor den hell erleuchteten Felsen des Gottes Saman und auch vor jenem Steilaufschwung, an dem Buddha gerastet und seine zerrissenen Kleider geflickt hatte. Dort hatte Sameera dann auch gemeinsam mit so vielen anderen Nadel und Zwirn von fliegenden Händlern gekauft und seinen Faden in einen Strang aus Tausenden von vorausgegangenen Pilgern ausgespannten Schicksalsfäden eingeflochten.
    Welche Stille am Ziel seines ersten Weges geherrscht hatte, sagte er, das Kloster nahezu menschenleer, der Gipfel dazu wolkenverhüllt und der Sonnenaufgang nur ein blasser Schimmer im treibenden Nebel. Aber jetzt war der Himmel klar, die Wolkendecke in der Tiefe nur eine weiße, wogende Ebene und die kalte Luft erfüllt von Stimmen, Gebeten, Trommeln und Geläute, Glockenschlägen – jeder Ankömmling durfte entsprechend der Anzahl seiner bisherigen Aufstiege einen Glockenschlag tun – und dann … dann war die Sonne über die Bergketten gestiegen und hatte den gewaltigen Schatten des Sri Pada auf den Wolken in der Tiefe erscheinen lassen wie den Zeiger einer ungeheuren Sonnenuhr.
    Auch das habe ich gesehen, sagte ich zu Sameera.
    Vielleicht lag ja der Trost dieses Berges tatsächlich darin, daß jeder, der ihn erstieg, ob zur Monsunzeit oder in einer klaren, windstillen Sternennacht, Erinnerungen, Gefühle, Erschütterung, Begeisterung mit so vielen anderen teilen konnte, die sich gemeinsam mit ihm und vielleicht aus ähnlichen Gründen auf den Weg gemacht hatten. Jeder von ihnen bewahrte, wenn er aus der Höhe wieder ins Tal stieg, für den Rest seines Lebens etwas, das auch von anderen bewahrt wurde, und trug so etwas von allen anderen durch seine Zeit.
    Als wir die überwucherten Reste von Sameeras Haus verließen und zur Mole von Mirissa weiterfuhren, überquerten wir auf einer schwankenden Brücke auch den ins Meer mündenden Fluß, an dessen Ufer jenes leere Haus für ihn bereitstand, das er aus Angst um seine Söhne nicht beziehen konnte. Ich hatte an diesem Ufer auf einer Flußfahrt am Vortag Eisvögel, Schwärme von Flughunden, Affenhorden und Seeadler gesehen, Flamingos zwischen Lotos und Orchideen und auf schattigen Sandbänken dösende Warane, Erinnerungen an den menschenleeren Garten Eden.
    Unter dem Brückenbogen zogen jetzt dreißig oder mehr Fischerboote, die tagsüber am geschützten Flußufer gelegen hatten, der Brandung entgegen, und Sameera winkte, ohne anzuhalten, einem der Fischer zu, schrie durch den Motorenlärm: mein Bruder! Und der hörte ihn oder hatte das mit Plastikblumen bekränzte Tuk Tuk erkannt und sah, an der Pinne eines mit Flammen bemalten, schwarzen Außenbordmotors sitzend, zu uns empor und winkte zurück.
    Obwohl es schon spät war und ich nicht wußte, ob mein Boot in Mirissa noch warten würde, bat ich Sameera, am Brückengeländer zu halten. Dort sah ich dann Boot für Boot aus der Flußmündung durch die anrollende Brandung schießen, sah, wie manche der Boote sich von den Brechern lösten, ja aufzufliegen schienen und für einen Augenblick fast senkrecht in der brodelnden Gischt standen, bevor sie in das ruhige Wasser jenseits der Wellenkämme hinabglitten, sah eine farbenprächtige, kühne, triumphierende Flotte auf dem Weg in die Nacht.

Trost der Betrübten
    Ich sah eine Gruppe betender Menschen vor den Gittertoren der Anstaltskirche des Psychiatrischen Krankenhauses
Am Steinhof
in Wien. Den Blick in das von zwei Ampeln nur schwach erhellte, golden schimmernde Kirchenschiff gerichtet, knieten oder standen die Betenden vor den versperrten Toren und umklammerten die Gitterstäbe, als ob die abendliche Weite in ihrem Rücken, die träge ziehenden Wolken, ja die ganze Stadt, die, aus der Höhe des Kirchenportals betrachtet, in einer blaugrauen Tiefe lag – Regionen einer vergitterten Welt wären und das verschlossene Halbdunkel, in das sie ihre Gebete, Lieder und Litaneien murmelten und sangen, die Freiheit, ein kostbar funkelnder, unendlicher Raum.
    Maria, Königin der Barmherzigkeit,
    Trösterin der Betrübten,
    bitte für uns.
    Obwohl jeder der sechs oder sieben Andächtigen seine eigenen Strophen und Bitten vorbrachte, verbanden sich ihre Stimmen zu einem wirren Chor, in dem jeder nach einem anderen Gesetz verstummte und irgendwann wieder in die Anrufungen einfiel. Die vier

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