Atlas eines ängstlichen Mannes
und erst jetzt, im Alter, aus der Provinz Hubei wieder zu seiner Tochter nach Peking zurückgekehrt. Er schrieb, wenn das Wetter es erlaubte, Tag für Tag unter freiem Himmel – nicht nur mit Wasser auf Steinen, sondern mit einem trockenen Pinsel auch in den Staub. Oft in den Staub auf den Kühlerhauben geparkter Autos. Eine stillstehende Kolonne, ein Abstellplatz konnten so bis zum nächsten Regen zu einem Buch oder zu einer Bibliothek werden.
Hatte ich schon von der Himmelswäsche gehört? In besonders staubigen Wochen wurden die Wolken über der Stadt aus Artilleriekanonen und Raketenwerfern mit Silberjodid beschossen, um einen reinigenden Wolkenbruch zu erzwingen. War der Angriff der
Wolkenkrieger
, der Mitarbeiter des
Amtes für Wetterbeeinflussung
, erfolgreich, dann stürzten manchmal solche Fluten vom Himmel, daß ganze Straßenzüge unter Wasser standen – und dann schrieb der Kalligraph nicht mit Pinsel oder Schwamm, sondern setzte seine Zeichen mit einem Stock in den Schlamm.
Jahrelang hatte er über das Vorhaben nachgedacht, gemeinsam mit seiner Frau das Land zu bereisen und die Ufer der größten Seen und Ströme Chinas nach und nach mit jener berühmten Sammlung von dreihundert Gedichten aus der Zeit der Tang-Dynastie zu beschriften, die vielen Kalligraphen immer noch als unerschöpfliche Quelle ihrer Kunst diente – Poesie aus dem siebenten, achten und neunten Jahrhundert. Aber dann war seine Frau gestorben und China zu groß geworden für seine Möglichkeiten und seine Kräfte. Und so mußten ihm jetzt die weitläufigen Ufer des Kunming-Sees die Ufer des Huang He, des Mekong und des Yangtsekiang und des Qinghai- und Poyang- oder Nam-Co-Sees ersetzen.
Er habe, sagte der Kalligraph, nicht mitgezählt, wie viele Male und immer wieder er dieses Ufer mit den Werken der berühmtesten Dichter der Tang-Zeit schon geschmückt hatte – mit den Worten von Li Bai, Du Fu, Meng Haoran oder Bai Juyi, aber zu den Gedichten, die er immer wieder auf diese Steine schrieb, gehörte auch dieses hier von Meng Haoran, einem Dichter des achten Jahrhunderts. Jetzt las der Kalligraph laut und wie nach dem Takt seines Bambusstocks, was er auf den Stein schrieb:
Ich verschlief die Dämmerung eines Morgens im Frühling
Die erste Zeile war schon wieder erloschen, als ich mit seiner Hilfe, die mir eine Ahnung des Bedeutungsreichtums jedes einzelnen Zeichens vermitteln sollte, endlich eine Art Übersetzung, meine Version des verschwundenen Gedichts, in mein Notizbuch gekritzelt hatte:
Ich verschlief die Dämmerung eines Morgens im Frühling
Dabei war die Luft erfüllt von Vogelgesang
Und verstummt nur das nächtliche Rauschen Von Regen und Wind
Wer weiß, wie viele Blüten gefallen sind.
Vielleicht lag es daran, daß sich neben dieser Botschaft aus der Tang-Zeit jedes weitere Wort erübrigte, oder auch daran, daß ich nun selber zu schreiben, zu kritzeln begonnen hatte – unser Gespräch wurde einsilbig und verstummte schließlich. Vielleicht wollte der Kalligraph aber auch bloß weiterschreiben und ich bloß weitergehen, die Uferpromenaden entlang, um endlich das steinerne Schiff der einst mächtigsten Frau Chinas zu sehen.
Also verabschiedeten wir uns herzlich, aber ohne Adressen zu tauschen und ohne das Versprechen, einander wiederzusehen. Als ich mich in einiger Entfernung noch einmal nach ihm umwandte, sah ich ihn bereits wieder versunken in seine Schrift. Er tauchte den Bambusstock ins Wasser, drückte den vollgesogenen Schwamm an der Steinkante aus und glich so einen Atemzug lang einem Fährmann auf einem mit Schriftzeichen beladenen Floß aus Stein.
Wallfahrer
Ich sah die von Schwertbohnen, blauen Winden und Fächerblumen überwucherten Fundamente eines zerstörten Hauses in der Bucht von Weligama, einer von Kokospalmenhainen beschatteten Kleinstadt im äußersten Süden Sri Lankas.
Sameera, der Fahrer einer jener dreirädrigen Motorradrikschas, die als
Tuk Tuks
die Straßen der Stadt beherrschten, wollte mir auf der Fahrt vom Fischmarkt zur Mole von Mirissa, an der ein Boot auf mich wartete, die Reste zeigen, die von seinem und dem Haus seiner Eltern nach dem vernichtenden Tsunami des Jahres 2004 geblieben waren. Ich hatte ihn darum gebeten, nachdem wir an der Theke einer Garküche ins Gespräch gekommen waren. Selbst jetzt, sieben Jahre nach dieser Flut, hatte Sameera gesagt, begannen ihn vor diesen überwucherten Fundamenten Erinnerungen zu quälen, die ihn oft stundenlang, nächtelang nicht wieder
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