Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
können. Fluchend war ich noch im Anhalten überzeugt, am Hinterrad einen Platten zu haben. Das war einige Wochen zuvor schon einmal geschehen, weil ein Lastwagen auf einigen Kilometern dieser Strecke leere Ballonflaschen verloren hatte und immer noch Scherben im Straßenstaub lagen, die nur bei günstigen Lichtverhältnissen warnend aufglänzten. Aber ich konnte diese Straße nicht meiden, weil sie die einzige war, die von jenem Dorf südlich von Sparta, in dem ich seit zwei Monaten wohnte, zu einer Taverne mit weitem Blick aufs Meer führte. Christos, der Wirt, der auch als Schlachter über die Dörfer fuhr, hatte zudem an einer grob geschweißten Halterung hoch an der blaugestrichenen Wand seiner Schankstube ein klobiges Fernsehgerät festgeschraubt, auf dessen Röhrenbildschirm die Zuseher selbst dann Nachrichten aus Griechenland und dem Rest der Welt verfolgen konnten, wenn sie auf der Aussichtsterrasse Platz genommen hatten: Sie starrten dann unter freiem Himmel und mit dem Rücken zum Tal durch eine weit geöffnete Flügeltür ins Innere des Lokals, aus dem Abend für Abend Werbechöre, die Stimme eines Nachrichtensprechers oder die erregten Kommentare eines Sportreporters drangen.
    In der Stille, in der ich die Reifen meines Motorrads kontrollierte, waren nur die Zikaden zu hören. Das Hinterrad war unversehrt. Hatte mich ein Ölfleck oder etwas Schlammiges, Nasses ins Schleudern gebracht? Ich ging einige Schritte zurück. Die Straße war trocken, staubig und ohne Schleuderspur. Im Licht meiner Taschenlampe blinkten auch nirgendwo Glasscherben. Die schwarzen Bergketten ragten wie entfaltete Scherenschnitte in den Sternenhimmel.
    Taygetos: Die Kartographen hatten diese lichtlosen Silhouetten nach der unglücklichen Nymphe Taygete getauft, eine der sieben Töchter des Titanen Atlas, die sich aus Verzweiflung in diesen Bergen erhängte, nachdem Zeus, der Vater aller Unsterblichen, sie verführt hatte. Vergeblich hatte Artemis, die Göttin der Jagd und Beschützerin von Frauen und Kindern, die Verfolgte vor der Geilheit des Göttervaters zu bewahren versucht und sie zur Tarnung in eine Hirschkuh verwandelt. Aber ein Gott war durch die Gestalt einer Hindin nicht zu täuschen. Taygete war am Ende ihres Unglücks in den Nachthimmel erhoben worden und strahlte nun als eine der hellsten Sonnen im offenen Sternhaufen der Plejaden. In Sommernächten stieg sie allerdings erst spät über den Horizont.
    Als ich dennoch unwillkürlich nach ihr und ihren ebenfalls an das Firmament versetzten Schwestern, den Plejaden, Ausschau hielt, wurde mir plötzlich und erschreckend klar, was an diesem Himmel bedrohlich war: die ungebrochene Schwärze. In den vielen Nächten, in denen ich auf dieser Bergstraße schon zu Christos’ Taverne hochgefahren war, schimmerte über den Höhenzügen im Nordwesten stets der Lichtbogen Kalamatas, der Hauptstadt Messeniens, ein Abglanz, der viele Sterne, die nun den nordwestlichen Himmel durchsprengten, überstrahlt und unsichtbar gemacht hatte. Aber jetzt erhellte kein noch so schwacher, künstlicher Lichtschein die sternübersäte Dunkelheit über dem Ort, an dem in diesen Jahren etwa fünfzigtausend Menschen wohnten. Kalamata war erloschen.
    Ich war wie auf der Flucht vor dieser unerklärlichen Tatsache, als ich, so schnell die Serpentinenstraße es zuließ, weiterfuhr. Christos’ Taverne war von Neonröhren hell erleuchtet wie immer, das Brummen des Dieselgenerators weithin zu hören und das flackernde Auge des Bildschirms schon auf dem letzten Anstieg vor der gepflasterten, von Oleanderbüschen gesäumten Zufahrt zu sehen. Aber kein Gast, kein einziger Zuschauer saß an diesem Abend auf der Terrasse, alle standen oder saßen sie im Inneren des Lokals dicht am Fernsehgerät, alle mit zum Bildschirm erhobenen Köpfen, und wurden so von den Szenen einer Katastrophe beschienen:
    Scheinwerferkegel glitten über Trümmerfelder; schreiende, klagende Menschen hockten zwischen geborstenen Häusern, andere liefen neben einem Bulldozer her oder blickten stumm vor Entsetzen in die Kamera. Zwei Männer in Festtagskleidung, sie trugen immer noch ihre Krawatten und auch die Blumensträußchen einer Hochzeits- oder Taufgesellschaft noch an den Jackenaufschlägen, standen mit Spitzhacke und Schaufel vor einer reglosen Frau, die bis zur Brust unter einer zerrissenen, nur von stählernen Armierungsbändern zusammengehaltenen Betondecke begraben war. Die seltsam unversehrte, blaue Kuppel eines Kirchendachs

Weitere Kostenlose Bücher